"Von Germania zur Avantgarde" ist ein Textbeitrag von Ulrich Suesse zum Promotionsbuch Maulbronn - Blaubeuren 1959\1963 - die Seminaristen (Klostterschüler) wurden in Arbeitsstuben eingeteilt, welche antike Namen hatten, wie "Forum" oder "Sparta" - Suesses Stube hiess "Germania"
Von Germania zur Avantgarde Also, wenn ich diese ganze Seminar-Sache Revue passieren lasse, wird mir ganz schwindelig - hat das Seminar doch gut ein halbes Leben von mir mitgeprägt - von 1945 bis 1969, davon intensiv - dh von Innen - die Geschicke und Geschichten unserer Promotion 1959-63 erlebend, später, nach 7 Jahren Englischkeit nochmal ein Jahr, 1976. Es wurde mir signalisiert, dass ich weniger übers Seminar schreiben möge, als vielmehr über meinen Weg zur Avantgarde und “in welcher Weise mein Vater diese Entwicklung begleitet hat” (Zitat aus Christoph Wetzels e-mail). So versuche ich das Seminar knapp und klein zu halten, obwohl viel sehr früh prägend war und bis heute nachklingt. So träumte ich nach meiner Ankunft in Südafrika 2005 ca zwei Jahre lang fast nur von Maulbronn und die 30 Jahre Professionalität an der Stuttgarter Musikhochschule erschienen fast gar nicht und New York (69-73), mal meine fantastische Action-Heimat war kaum mehr einen Traum wert. Also: Als ca 5-jähriger kam ich vom Kindergarten direkt nach Germania, wo Uli Zanzinger - Promotion 1949/53 - mir seine neuesten Griechisch-Vokabeln beibrachte ... ich erinnere mich nur noch an “ho georgos”, weiss nun nicht mal mehr, ob mans gross - oder klein - oder beides schreibt, Doppelpunkt: der Bauer --- spätere Promotionen haben dann meinem Vater ob seiner manchmal durchaus rustikalen Art den nicht sehr schmeichelhaften Spitznamen “der Bauer” verpasst und nun war es tatsächlich dann viel viel später, dass Ulrich, Uli Zanzinger die letzten Atemzüge meines Vaters am 29.6.2001 in einem Pforzheimer Krankenhaus wahrnahm - Goggo, Gottfried Schick, Promotion 1951/55 kam gerade mit dem Fahrad vorbei, als ich gegenüber dem Maulbronner Bahnhof eine dort plazierte Landkarte studierte, - durch meine 7-jährige Kleinheit musste ich auf ein Geländer klimmen von dem ich durch meine lebensbegleitende Ungeschicklichkkeit abglitt, natürlich ausgerechnet in einen Eisenpfosten welcher meinen rechten Oberschenkel bis heute narbenmässig prägt - nun eben dieser Goggo fuhr mich ins Krankenhaus und wie man weiss, kam ich inclusive Tetanusspritze davon - und nun gerade mal 27 Jahre später, also ca 1978 ist dieser Goggo Oberstaatsanwalt und muss Terroristen verfolgen - ausnahmsweise mal in dieser Zeit jugoslawische - und hat bei seinem Abschied vom Oberstaatsanwaltsgeschäft ca 2004 in seiner Abschiedsrede erwähnt, dass er mir das Leben gerettet habe ... er lebt heute zwischen Freiburg und der Normandie ... als Seminaris hat mich allerdings sein Kontrabassspiel beeindruckt .. und/oder war es Gegga mit dem Fagott oder war Gegga der tolle Handballspieler? -- bzw war Hellmut Stroh, Prom 53/57 mir ein (Fantasie-) Leben lang verbunden, weil er krampfhaft im “Frauenschwimmbecken” am Tiefen See Schwimmen übte - und ich hatte so sehr Mitleid mit ihm, da ich solch tragweite Aktivitäten, wie Schwimmen und Radfahren erst selbst erlernen musste - und dann hatte er noch den Spitznamen “Kater Stroh” --- ich weiss nicht warum ... und sehr sehr viel später, sagen wir mal 1996 begegne ich ihm, quasi von Mann zu Mann und ich erzähle ihm eine harmlose Geschichte über eine Nummer aus dem Orgelbüchlein (natürlich BACH) in Zusammenhang mit meinem Vater und er fängt an zu streiten - da hab ich schnell das Thema gewechselt...... über/von Martin Wall (Promotion 51/55, geschätzt und später Vikar in Maulbronn) gibts die Landesexamensgeschichte aus Schmie - es gab wohl kaum Kopierer und an die Tafel schreiben war wohl auch manchmal lästig, so wurden in diesem Fall die Themen des deutschen Aufsatzes mündlich angesagt. Ein Thema hiess “Mein Freund, der Wald” und ein Freund von Martin Wall dachte, tolles Thema - nun, ich kenne den Martin ja gut, doch die anderen ... er hatte verstanden “Mein Freund, der Wall” und noch ein anderer hatte verstanden “Mein Freund, der wallt” - Hoffentlich haben die anderen andere Themen genommen .... Gut, solche Buntsammelsuriumsgeschichten gibt es dergleichen viele - ich gehe grad nochmal auf eine spezifische Situation ein: Feldhandball - es waren tolle Momente als kleiner Stöppke zum Sportplatz zu marschieren und epochemachenden “Länderspielen” zwischen den Seminaren Schöntal und (mai=mein)Maulbronn fiebernd beizuwohnen - vor allem, wenn der Torwart, eigentlich als Schiessbudenfigur vorprogrammiert mal was hielt: Bravo, HauBang (das ist Taiwanesisch, was ich als Dirigent lernte - gut jetzt sind wir schon bei meinem Gastauftritt 1985 in Tainan, aber durchgehend ist die Linie des produktiven Positivismus, als das ich das Seminar erlebt habe und später auch meine Musikerlaufbahn: “Lobe die Spieler, sonst wirds nix zB schreie ich hinter dem Tor, den underdog (Torwart) unterstützend, aber natürlich stolz, wenn “meine” Seminaristen gewinnen, Klammer zu.
Also, ich will sagen, da gibts massig zu berichten, aber ich beschränke mich und schiebe die Kernseminarsachen ins Kleingedruckte wie zB folgende Familienzustände: wie sicher bekannt, ist/war ja mein Vater Schlesier und mein Grossvater, eher unbekannt von dieser väterlichen Seite, schon 1920 gestorben, war Bahnhofsvorsteher - ein Grossonkel sei in Amerika als Trapper (vielleicht?) verschollen - später tätigte ich ungenügsame kurze Forschungseinheiten in diese Richtung, stiess auf den Militärmusiker John Philipp Sousa, den Erfinder des Sousaphons, dem deutsche Wurzeln nachgesagt wurden, was aber bei einer Europatournee ein marketing-Trick seines Managers im jeweiligen Gastland war - bei Dana Suesse, einer Pianistin (Gershwin Spezialistin), Jahrgang 1909 war ich dann näher dran, sie war zur gleichen Zeit wie ich in New York - aber das sind ganz andere Geschichten - und können erst jetzt im Internet Zeitalter “entfantasiert” werden - nein, bis auf den Seminarmusikvater war dieser Teil der Familie seminarunrelevant, aber meine Mutter, geborene Strebel war im schwäbischen Pfarrertum zuhause und da wird es ganz heiss Richtung Seminar: die Sippe Strebel/Süße war in Germania sesshaft - klar, durch das Alphabethsgeschick(sal) - das ist nicht unbedingt was Besonderes - aber: Martin Strebel, Promotion ca Anfang 1900, mein Grossvater und sein jüngster Sohn, der Bruder meiner Mutter, Albrecht Strebel, Promotion 1947/51, also mein Onkel und Eberhard Süße, Promotion 1957/61, mein älterer Bruder kamen alle in Germania zu sitzen und zwar auf dem gleichen Platz: wenn man reinkommt am ersten Pultgeviert, am Fenster, mit dem Gesicht zur Repetentenstube ... und alle wurden Theologen ... da fängst schon an nachdenklich zu werden ... nur ich kam dann etwas später: genau: Promotion 1959/63 ... und mein Sitz war nicht dergleiche, sondern gegenüber, zwar auch am ersten Pultgeviert und auch am Fenster, aber mit dem Rücken zur Repetentenstube, neben Albrecht von Stackelberg - und ich wurde ja trotz eines jahrelang “aufgehobenen” (=reservierten) Freiplatzes im Tübinger Stift nicht Theologe - und mein jüngerer Bruder Hartmut (66/70) sass zwar auch in Germania, aber ganz wo anders, vom Seminaristenverzeichnis 2008 zu schliessen, an drittletzer Stelle, da wo bei uns ungefähr Christoph Wetzel sich seine Zukunftsgedanken machte - und Hartmut Strebel, auch mein Onkel, aber nicht so eng wie Albrecht - typisch schwäbisches Phänomen: Hartmut Strebels Vater Arnold, Stiftskirchenorganist in Stuttgart, gestorben 1947 war der Vetter meines Grossvaters und ihre jeweiligen Ehefrauen waren Schwestern - also Hartmut Strebel, toller Flötist und später mein Kollege an der Musikhochschule landete kriegsbedingt als Spätankommer (Promotion 1945/49) sogar in Hellas oder ähnlichen schwervorstellbaren Stuben - als Junge hat man sich ein so vage plus-minus Bild von der Welt gemacht und die vorderen Stuben in Maulbronn waren halt eher minus, wogegen die Regionen Athen und Germania permanente wohltuende Wärme ausstrahlten .... ich habe mich später immer wieder gewundert mit wieviel unwidersprochener und unreflektierter Parteilichkeit, wir können es auch ruhig Rassismus nennen, wir aufgewachsen sind, bei all den Positivismen, welche ansonsten ein Wohlbehütetsein des Seminarlebens ausmachen.
Spezifisch Maulbronn 1959/61 nur das, was mein Vater auch später öfters erwähnte: das Unikum, dass Hartmut Sattler und ich uns die Solopartie von BWV 1054, Konzert für Klavier und Orchester D-Dur teilten (Hartmut spielte den ersten Satz am Klavier, ich im Orchester an der Bratsche und Satz 2 und 3 lief umgekehrt). Geschehen schätzungsweise 1961 im Oratorium. und Blaubeuren 1961/63 Streiflichter in loser Folge - vom langweiligen Hörsaal streifen die (Licht)Blicke zur (losen, nur des Wortspiels wegen) Kellnerin vom Lokal gegenüber, vor allem wenn sie die Treppen hochgeht - Jochen Tolks Bachtrompetenkunst - einer bringt mal Boxhandschuhe mit und wir hauen ein bisschen um- und aufeinand ... am nächsten Morgen beim Frühstück knirschen die Kiefer - will ins Kino, finde niemanden, Werner macht dann mit. Der Repetent, welcher Erlaubnis plus Schlüssel geben soll, wundert sich: “Was, Sie und der Koch?” - wundere mich auch, warum nicht Koch und ich? - Peter Nitsche und Richard Wagner - Kurt Seemüller und das Glockenseil - Hartmut Sattlers Bonbontüte im Bus nach Berlin (Geschichte nur auf Anfrage) - Geschichtsunterricht ganzpromotional. Spannend, der Ephorus über SA und SS ... kleines Unruhegeschwätz aus der Richtung vom Diez ....Ephorus: “Wer war das?” null, nix ... lauter “Wer war das?!” nochmal nix, null ... dann brichts heraus: ffff: “Feiglinge, Schwächlinge!!!” - nun gut, aber so gehts ja nun wirklich nicht - bei der Abendandacht ist dann der Kittel geflickt. - Deutschunterricht: irgendeiner von uns hatte mal wieder einen nun wirklich besonders unausstehlichen Senfkäs abgelabert. Darauf der gentlemen par excellence Friedrich Schmid: “ Ach hören Sie doch auf mit Ihrer - sit venia verbo - Klugscheisserei” - beim Allerweitesten kein “Lateiner” ist mir diese Wortkombination, auch in der deutschen Fassung “Es sei Gnade dem Wort” bis heute eine Offenbarung
Nun der Weg zur Avantgarde ...ich will mal so anfangen: komponieren wollte ich immer, das erste Klavierstück entstand 1954 in f-moll, meinem Vater zu Weihnachten geschenkt mit der verstohlen schüchternen Gestik des Genies, das noch keins sein darf ... denn es war mir schon damals klar, dass man mit f-moll keinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Allerdings war die Notwendigkeit, zu komponieren richtig zwang - und triebhaft, dem Geschlechtstrieb tatsächlich nicht unähnlich und damit auch eher der Geheimhaltung unterworfen.
So - nun - was ich unbedingt vermeiden wollte, bis in meine zwanziger Jahre hinein war die Frage zu hören “... und von was willst du leben, Junge” - weshalb ich kaum jemand erzählte, was ich im Leben wirklich wollte. Allerdings zog ich so nach und nach meine Erkundigungen ein, wenn etwa das Pforzheimer Kammerorchester im Kapitelsaal spielte (Albinoni, Händel, Corelli). Sie packten ihre Instrumente im Musiksaal aus und wieder ein - Tilegant, den Dirigenten konnte ich nicht fragen, aber einen zweiten Geiger, vielleicht auch Jacoba Muggel, die Cellistin und die gaben einem 12, 13, 14-jährigen Buben schon Auskunft, wos lang geht ... eigentlich kam für mich nur Kirchen - oder Schulmusik in Frage und meine eigentliche Leidenschaft musste im mehr oder weniger Geheimen warten. Wie stark war die Unterstützung durch meine Eltern?
Es gab da zwei Hauptlinien: Niemand war klar, dass ich auf die Avantgarde zusteuere, noch, dass ich Komposition als Lebensgrundlage begreife - für den ersten Teil studierte ich ja nun Kirchenmusik (hatte sogar noch einen Freiplatz im Tübinger Stift 4 Jahre lang in Hinterhand) und das bot genau in der Zeit eine wesentlich verbesserte Existenz, sodass es da nichts zu meckern gab und zweitens war ich schon sehr früh - ab 1964 - durch diverse Kantorenstellen (Leoberg-Ramtel, Feuerbach mit amtierendem Pfarrer Wambach und Ulm-Söflingen) mit einem eigenen Einkommen ausgestattet und besass ausserdem das erste Auto in der Familie - 1965: Fiat 770 mit 600 Motor oder umgekehrt. Erst als ich 1969 nach Amerika ging - und es war klar, dass das nun rein garnichts mit Kirchenmusikk zu tun hatte - hat wohl auch meine Familie verstanden, dass die neuesten Bewegungen der Musikschöpfung mich ergriffen hatten .... da war es natürlich zu spät und ausserdem vom Zeitgeist her (antiautoritär) nicht angesagt, zu intervenieren - gut, mein Vater schickte mir die Ausschreibung zur Stelle des Seminarmusiklehrers in Blaubeuren, Nachfolge Alfred Kapp - und ich reflektierte kurz, wie es wäre, beim Blautopf mit den Seminaristen Fussball zu spielen und Musikkonzepte zu entwickeln - aber mein Vater nahm es mir nicht übel, dass ich auf eine Bewerbung verzichtete.
Meine Mutter und Avantgarde war nicht eigentlich bzw eigentlich nicht, Harmonie war eines ihrer existenziellsten Bedürfnisse - einiges davon hab ich tatsächlich auch geerbt - da hatten Schönberg und Genossen nicht viel auszurichten, bzw gar elektronische Musik - ei der Daus oder Experimentelles (ich habs mal spasseshalber als ex - per - mens erklärend verkauft, was natürlich bullshit ist, die Wurzel ist in Griechisch “peiro” bzw in “periri”, durch etwas hindurchgehen, zu suchen). Heide zog es vor, diese Sache sowenig wie möglich als Konfliktstoff aufkommen zu lassen (da aus mir kein Theologe mehr zu machen war, sollte es immerhin ein Kirchenmusiker sein - aber ohne Avantgarde - das war dann eben auch nicht ausser periodisch und nebenberuflich) - in meinem Gedächtnis gab es eigentlich nur einmal eine deutliche Reaktion: ca 1982, als ich den Auftrag vom Rösch-Ensemble bekam, zu deren Interpretation von Vivaldis Jahreszeiten ein neues Stück zu schreiben, Aufführung bei den Klosterkonzerten im Laienrefektorium, Kloster Maulbronn, Juni 1983 - da reagierte meine Mutter so, als ob der Beelzebub und Satan zugleich in ihr geliebtes Kloster eindränge (((“bloss nix hässliches”))) - die Aufführung war dann OK - die Konzeption erarbeitete ich im Apartheidsstaat, wo meine seit 1978 angetraute Jean Ann Westmore für die verbannte Bürgerrechtlerin Fatima Meer (>>>> bitte googlen) den Soziologievorsitz an der Uni in Durban für ein Jahr übernahm. Ich hatte allerdings mit der Konzeption der Komposition, also im Vorfeld, stark damit zu kämpfen, zu legitimieren, dass ich in diesen Zeiten wo die Amis Raketen aufstellen, ausgerechnet eine Streicherei fürs Kloster komponieren solle; wichtiger wäre, auf die Strasse zu gehen, was ich auch tat, aber Musik zu machen? OK, wenn ich in der Aufführung etwas relevantes beisteuern könnte, aber was?: in der Mitte der Komposition aufzustehen und zu sagen “Nieder mit den Raketen” ist läppisch ... was für eine Wirkung hat das dann denn - ich weiss doch, wer im Konzert sitzt: der Pfarrer, der Metzger (Röger - remember?), der Chefarzt, “das Seminar” etc ... was soll das dann - nun, die Komposition heisst “Zwischen Frühling und Herbst” 1983,3 für Streichorchester, Cembalo (Orgel) und dreikanaliges Tonband und den Weg, welchen ich schliesslich wählte, war der einer Bewusstseinsstrategie: dh nicht einfach irgendwelche Töne zu fabrizieren, die in ihrer Beliebigkeit kaum mehr Assoziationen hervorrufen als “schön - oder halt nicht ganz so schön bis Pfui und jenseits von Pfui”, sondern Töne/Frequenzen zu kreieren, welche signalisieren, dass bewusst etwas gemacht wird. Das ging in mehreren Stufen ab, welche ich der Langatmigkeit wegen nicht alle aufzähle (ich darf dabei auf folgendes hinweisen: ein Komponist arbeitet an einem 15 Minuten Stück zwischen mindestens einem Tag bis unendlich, sagen wir mal 7 bis 10 Monate ... was da alles gedanklich abläuft, kann niemals in diesen 15 Minuten nachvollzogen werden) - die zwei wichtigsten Momente will ich aber rausstreichen: 1. von Band kam eine Stimme mit einem Text, welcher sich nach und nach zusammensetzte zu “Zwischen Krieg und Frieden gibt es Schattierungen” ... = der zarte Hinweis, über ein plus - minus, ja - nein Denken in die Feinheiten von Argumentationen vorzudringen und dann, 2. getimed auf 20:45 drei Glockenschläge vom aufgesetzten Zisterzienser-Kirchturm. Diese Töne kennt jeder Maulbronner Klosterbesucher und wird vielleicht unwillkürlich auf die Uhr schauen bzw wirklich merken, dass sowas kein Zufall, keine Beliebigkeit sein kann, sondern bewusst gefertigt ist. Allerdings war die Ausführung schwierig: ich wollte es “live”, mein damaliger Mitarbeiter und Freund, David Mason suggerierte den elektronischen Weg: Glockenschläge aufnehmen und an der Stelle zuspielen, wo es sein soll, egal ob es 20:43 oder 20:47 ist - mein Dickkopf versuchte sich an anderen Szenarien: eine Musik zu komponieren, welche sofort unterbrochen werden kann, wenn es auf die Sekunde genau 20:45 ist, oder die solange wartet, bis es 20:45 ist .... ersteres ist keine Kunst (hahaha), zweiteres kann bös daneben gehen: wenn zwei Minuten zu überbrücken sind zB ist es sehr schwer, den Gähneffekt beim Rezipienten zu überkommen, siehe die Geschichte um “Tone” 1973,1 .. und was ist, wenn etwas passiiert? - mehr Zuschauer, nee oder hoppla, Zuhörer kommen, Stühle herbeibuggsiert werden müssen ... da kann es sich dann schon schnell um eine Viertelstunde handeln und nun sind wir im Aufführungsbereich einer kompletten Beethoven Klaviersonate ... nein, ich war froh, auf David zu hören: die Glockenschläge kamen an der entscheidenden Stelle vom Tonband: ein dritter (siehe Titel und Partiturseite) Lautsprecher war ausserhalb des Laienrefektoriums auf dem Sims eines Kreuzgangsfensters postiert und brachte die Glocken elektronisch von aussen mittels Mischpult auf die beiden Innenlautsprecher ins Refektorium und es wirkte tatsächlich so, als ob es die Glocke selbst wäre - für mich, der ich natürlichen Klang von elektronischem sound zu unterscheiden vermag, war das ein Frevel an Authentizität, den praktischen Amerikaner Mason kümmerte das nicht und er hatte letztlich total recht : es funktionierte, niemand nahm Anstoss an der Unechtheit, bzw niemand bemerkte diesselbe - - da fällt mir fast unvermutet eine story ein, welche ich unbedingt in diesem Zusammenhang “des Merkens” loswerden muss, geschah sie doch an gleicher Stelle: ich darf sie aber wieder kleinschreiben: irgendwann sass ich im Laienrefektorium als Zuhörer eines der Klosterkonzerte und das letzte Stück, der Rausschmeisser war Bachs E-Dur Violinkonzert, BWV 1042 (die Vorlage zu BWV 1054, siehe an anderer Stelle) und im letzten Satz fatzte dem Sologeiger die E-Saite ... gedankenschnell gab der Konzertmeister dem Solomeister seine intakte 4-saitige Geige und alles war Roger, Applaus usw - neben mir sass eine Dame. Sie fragte mich warum der dem das gegäben habe (vgl Matthäuspassion Nr. 73, bzw Matthäus 27, Vers 58 “da befahl Pilatus, man sollte ihm ihn geben”) und ich erkärte das mit dem Gefazze, darauf sie “i hab denggd der wollde beweisa dasser midner andera Geig genauso schö schbiela kao” - Viola)
Also gut, “Zwischen Frühling und Herbst” (was natürlich als Zentralpunkt den Sommer Vivaldis hatte) ging alles gut bis auf das “Après”: beim Aufräumen der Elektronik kam eine Dame und legte die Eintrittskarte ohne Kommentar auf das Tonbandgerät. Der Kommentar stand auf der Rückseite geschrieben: “Haben Sie keinen Anzug?” - mein alter Duden von 1980 gibt für “Après-Ski” folgendes: "bequeme (modische) Kleidung .... "
So, und die Komposition wurde zwar nicht der absolute Welterfolg aber immerhin gab es eine Aufführung beim 40 - jährigen Jubiläum des Landes Baden-Württemberg in der Beethovenhalle Bonn, 11.5.1989 (im Zug musste ich in der VIP Abteilung sitzen und Meyer-Vorfelder lud mich schon um10:00 morgens zum Glass Wein ein .. nein nein nein, abends: ja ja ja) - nur: der wirkliche Bewusstseinsdurchbruch war das auch nicht, immerhin konnte ich diese Komposition als politische Musik deklarieren, bis mir auch da die Augen/Ohren/Merkse geöffnet wurden: Tainan, Taiwan 1985: ich halte Vorlesungen und lenke die Thematik auf “politische Musik”, jeder spitzt die Ohren denke ich, bis ich merke: hoppla: für deren autoritär geführte Gesellschaft heisst “politische Musik” die Unterstützung des derweilig regierenden Regimes weil alles andere zu Knast führt. So musste ich vorsichtig anfangen, neu zu definieren.
Diese Sache mit dem Denken und dem Bewusstsein war mir dringend wichtig und bei aller Lockerheit, angefangen mit “pppp”, piano ping pong piece 1969,4 gab es fast bei allen Kompositionen einen ernsten Hintergrund.
Ich will zwei extreme, fast identische Beispiele rausgreifen: Zur Eröffnung des Museums für Technik und Arbeit in Mannheim am 28.9.1990 gibt es Reden und Musik - klar. Am Anfang spielte ein Musikprofessor auf der Kinoorgel des Saals “Auf der schwäbschen Eisebahne” - ich hatte den Auftrag zwei musikalische Beiträge zu liefern, darunter den Schluss. Ich stellte mir die Aufgabe, nicht einfach nur bezogenes Kolorit abzuliefern, es sollte vielmehr rüberkommen, dass Musik auch von denkenden Personen kommen kann, dass technischer Fortschritt eine Rolle spielt und beides einen relevanten Beitrag zur Entwicklung einer Gesellschaft leisten kann. Ich wählte in dem Schlussstück “... Zeit-Los” 1990,5 den Weg, aus der vorher gehaltenen Rede des Ministerpräsidenten, Lothar Späth mit der damals neuesten Sample-Technik Ausschnitte zu verwenden und über synthetisierten keyboard wiederzugeben. Um das Flopprisiko zu veringern flog ich nach Ostberlin, zu Hannes Zerbe, einem der gewieftesten “Keyboarder” und Techniker quasi zur Generalprobe. Die klappte, die Aufführung auch und es war ein vernehmliches Staunen im Raum, als Späths eben erst frisch geäusserte Worte, zB “der schwäbische Erfindergeist” frequenzmässig variiert wurden .... höher, tiefer, schneller, langsamer, repetierend etc. Als ich zwei Monate später zu einem sogenannten Kulturfrühstück in die Villa Reitzenstein eingeladen wurde und Späth mich wahrnahm, sagte er “Sie hatten ja auch 20 Minuten Zeit. . ..” dh. er hats geblickt, oder einer seiner Mitarbeiter hats ihm gesteckt ... wenige Monate später war er dann kein Ministerpräsident mehr aber das sind andere Sachen.
Dasselbe machte ich dann 10 Jahre später bei der Einweihung des Museums für Kommunikation in Berlin am 17.3.2000. Allerdings war der Schwerpunkt nicht mehr die neueste Technik, sondern Kommunikation, der Berliner Museumsthematik entlangempfunden. Festredner war diesmal der Bundespräsident Johannes Rau. Als er seine Stimme unvermutet in meinem Stück wahrnahm stutzte er ganz kurz, lachte dann aber und signierte später mein Partiturblatt (siehe Abbildung). Doch noch eine Reaktion von meiner Mutter, nach einem Konzert im Planetarium Stuttgart:“au, jetzt isch mirs aber ganz durmelich” -
Martin Süße und “Tone” Ein besonders heikles Kapitel der Avantgarde war, wie mit der Freiheit umgegangen wird: zwei Pole und ganz furchtbarviel dazwischen: Pol 1: soll Neuavandgardistisches präzise notiert werden, wie bei Ligetis “Aventures” ( über hundert Nuancenfestlegungen für die fünf Vokale), sodass das Neue, fassbar und klar ist und bei jeder Aufführung dann im Grobjargon “dasselbe” ist (“dasselbe” ist natürlich im Feinen nicht immer oder gar nie “dasselbe”, vor allem mit den bekannten Spielvarianten von Interpretation .. “ist ja so ganz anders wie ich oder der/die das macht/spielt/darstellt” oder dem “panta rhei”- Effekt) oder soll, Pol 2 der totale Zufall walten (Cage), bei welchem nicht nur die erste, sondern jede Aufführung eines Stückes zur Einmaligkeit wird, weil jede Aufführung desselben Stückes anders ist und somit keinen Wiedererkennungswert besitzt. Ein paar Szenen um mein New Yorker Abschiedsdrama “Tone” 1973,1 gibt weiteren Aufschluss über diese Pole und mein Vater kommt auch ins Spiel, zunächst geht es aber jetzt wieder ins Kleingedruckte, da ich 1973,1 erklären sollte: ich fang mal so an: “neu” zu definieren war immer schwer: ist neu = einmalig oder nur einmalig passiert, wie zB wenn ich passiiert mit zwei “i” schreibe was keine Qualität zeigt - ist die Einmaligkeit von Cage’s “tacet” oder 4’33” (ein Pianist spielt ein dreisätziges Werk, 4’33” indem er keine Taste anrührt, sondern nur den Klavierdeckel zu Satzanfang und Satzende hebt und schliesst) qualitativ grösser als “passiiert” oder sagt jeder, dem sowas einfällt zu sagen “Hätte ich auch machen können” wie auch Rauschenbergs “erased masterpiece” oder Spoeris Assemblagen und soviel mehr aus der Fluxusszene - gut, nun habe ich irgendwann angefangen meine Werke zu registrieren - und das siehst so aus: Jahreszahl (1973) und erste Komposition, also 1973,1 - und das habe ich noch nie bei irgendjemandem gesehen, bilde mir auch nix drauf ein, weil es keine Qualität einbindet, ist aber neu und damit doch ein wenig beglückend für mich, allerdings auch problematisch: was ist mit den ganzen Zweit-und Drittfassungen desselben Titels - immerhin kann meine website: ulrichsuesse.com ein bisschen Auskunft geben..... zurück zum Grössergedruckten: Also “Tone” for female voice, piano, two taperecorders and three tapes - war wichtig in Elektronischer Hinsicht (nebenbei ist eine elektronische Festlegung bei jeder Aufführung tatsächlich mehr “dasselbe” als die Interpretation von der gleichen Notationsvorlage), aber auch in Freiheitsdimensionen - ich wollte ca die Hälfte des 20-minütigen Werkes dem freien Gusto der Interpreten (Klavier und Stimme) überlassen, wissend, dass ich exzellente Interpreten habe (Harold Lewis und Sheila Schönbrunn) und mein Zuspielband als Festgelegtes eine Peinlichkeitskatastrophe verhindern könne. Gheorghe Costinescu war dagegen - wir waren beide bei Stockhausens letzter Kölner Kursen 1968 und gingen dann unabhängig von einander 1969 nach New York, um bei Luciano Berio zu studieren - Berio, der Meister der Stimme mit den wegweisenden Kompositionen “Thema: Omaggio a Joyce” von 1958 und “Visage”, 1961 intoniert von seiner damaligen Frau Cathy Berberian war Vorbild in Stimme und organischer Behandlung von Elektronik und ein penibler Notationsfanatiker, nichts eventuellen menschlichen Schwächen überlassend - Gheorghe Costinescu auch - ich bin anders, bemerkte aber die Gefahren: - nach einer fantastischen Generalprobe (die natürlich niemand mitbekommen hatte) war die Aufführung in New York am 3.4.1973 OK aber nicht riesig, da die Sängerin leicht die Orientierung verloren hatte, was keiner merken konnte, ausser den direkt Beteiligten: ich hatte ja nach meinem freien Willen die entscheidende Mittelpartie ohne Notation und nur mit der Zeitangabe des Zuspielbandes versehen und wurde in der Generalprobe belohnt und in der Aufführung “vorgeführt”, sodass ich mir Costinescus Mahnen zu Herzen nahm und einen Kompromiss ansteuerte: bei der zweiten Aufführung in Durban, Südafrika (inzwischen hatte ich in dem damaligen Apartheitsstat meine erste Dozentenstelle angenommen) am 2.10.1973 mit Anthea Hinch und Christopher Ballantine verfertigte ich eine vierseitige Zusatzpartitur in Rahmennotation (wahrscheinlich wird unser Notatationsexperte Robert Haussmann aufhorchen). Das Erhalten einer Qualität = “bitte nicht langweilen” war für mich gelöst.
Dann gab es ohne mein Beisein am 4.3.1975 im Theater der Altstadt, Stuttgart eine Aufführung - und nun kommt mein Vater rein: er war bei der Aufführung und schrieb dann einen Brief, in welchem er eine gewisse Länge in einem Teil erwähnte (nicht “monierte”) - ich wusste sofort, wo es war, genau da wo ich nicht langweilen wollte und dann war es also doch passiert - denn auf die musikalische Meinung meines Vaters hätte ich alle möglichen Bände geschworen - wohl war er nicht auf dem Laufenden mit der Avantgarde, aber er hatte den sogenannten untrüglichen musikalischen Instinkt. Also: Costiunescu hatte recht, Luciano Berio sowieso und ich war der Arsch, einem Freiheitsgedanken aufgesessen - inzwischen besuchte mich Calmus Edition, London zwecks Publikation von “Tone” ... Cathy Berberian war im Gespräch für eine Interpretation - gut, daraus wurde nichts, aber nicht wegen der Langweilerkategorien oder Cathy (sie starb 1983 in Paris, ich glaube blöderweise bei einem Autounfall) - aber: Jahre später, inzwischen in meiner neuen/alten Umgebung Baden-Württemberg angekommen erfuhr ich zufällig (Cage!!), dass der Meister, welcher das Tonband bediente (ich kenn ihn und seinen Namen) an der entscheidenden Stelle das Band über zwei Minuten angehalten hatte - meine Anweisung hiess “ca 40 Sekunden” und wer immer mit Musik hantiert weiss, dass zwei Minuten eine qualvoll lange Zeit sein kann - so hatte eigentlich Martin Süße es richtig wahrgenommen, sein Sohn kämpft immer noch um die Langweiligkeitsschwelle, hatte bei “Tone” aber eigentlich nichts richtig falsch gemacht - Costinescu hat auch recht, Berio starb 2003 .... und inzwischen gibts schon lange keine Tonbänder mehr. Da muss i scho a Wort nema, das meine Frau Jean auf dieselbe Palme brachte aus der sie stammt (hahaha .. Blödzitat: wo wohnst du? - in Afrika, dritte Palme links) : was woistdenn i Der letzte Satz wurde wahrscheinlich ca 23.30 geschrieben und fällt der Eigenzensur zum Opfer.
Also bei meinem Vater hatte ich nie die Besorgnis, dass das was ich mit Hingebung musikmässig tat ihn tendenzmässig, geschmacklich oder sonstwie in irgendeiner Weise störte - ich glaubte, sogar zu spüren, dass er mich gelegentlich bewunderte - es war aber nicht “in”, sowas grösser zu zeigen.
Er war viel zu sehr Praktiker und Organisator, als dass er sich in die teilweise komplizierten Forschungen der Musiktheorie, denen ich auch nachging, hineinleben wollte und die sogenannte Neue Musik hat er eigentlich nur durch mich wahrgenommen. In diesem Sinne gab es keinen Austausch - was ich auch nicht erwartet habe, aber auch keinen Zoff.
Auf dem Gebiet der traditionellen Musik waren die Beziehungspunkte mit/zu meinem Vater allerdings recht vielfältig: ich übernahm Proben (Matthäuspassion, h-moll Messe, Brahms Requiem), leitete eine Serenade während er im Krankenhaus war - Hochzeiten, Beerdigungen mit Geige oder Orgel, klar (die Verlängerung des Endspiels England - BRD 1966 sah ich im Sprint zwischen Hörsaal und Sommerkirchenorgel) - er übernahm meine Orgelschülerinnen in Grosssachsenheim und Vertretungen in Stuttgart Wangen, wo ich die Michaeliskirche nebenher versorgte (1976 - 1985).
Aber er wollte auch, dass ich einmal einen Vortrag über neue Musik hielt. Das geschah bei der Promotion 1972/76 und ein gewisser Christoph Bossert wurde infiziert. Ich analysierte meine Komposition für Orchester und Elektronik: “Start”, welche gerade am Rundfunk in der Villa Berg uraufgeführt worden war (26.1.1973). Christoph hat später bei mir und Helmut Lachenmann studiert und ist heute einer der top Orgelprofessoren.
Einmal aber gab es auch eine Zusammenarbeit: ich hatte den Auftrag für die Stadt Stuttgart zum 200-jährigen Gedenken der französischen Revolution eine Mehrkanalkomposition im alten Schloss zu verfertigen. Ich gab der Komposition den Namen “Bastille, Stuttgart” (1989, 3) und bin heute noch stolz auf ein paar Szenen: zB liess ich den Trompeter auf das dortige Denkmal des Grafen Eberhard im Bart, der auf einem Ross sitzt, klettern, um von dort aus Töne der kubanischen Revolution zu schmettern (siehe Abbildung) und hatte einen Heidenschiss vor Genehmigungen, Erlaubnissen usw, Amt für öffentliche Ordnung etc - nix ... kein Mucks, kein Problem - mein Problem war allerdings: was hat Stuttgart mit der französischen Revolution zu tun? - und - wie kann man eine Komposition über die französische Revolution machen und ist der Macher und das sogenannte Volk, um das es bei dieser Begebenheit eigentlich geht hört einfach nur zu? Solche Fragen konnte man daheim (inwischen waren die Eltern auf die schwäbische Alb: Upfingen gezogen) schon ansprechen und diskutieren: irgendwie erinnerte sich mein Vater an einen Brief, welcher ihm sein Patenonkel in der Nazizeit geschrieben hatte. Der Patenonkel war Pfarrer und der NSDAP voll zugetan und wollte meinen Vater in diesem Brief überzeugen, der neuen Sache beizutreten und argumentierte theologisch mit “dem neuen Weg” - “zukunftsweisend” - “heilbringend” ..... So kamen Auszüge dieses Briefes auf das mehrkanalige Band und, wie oben angedeutet sollte es ja nicht ohne die Leute abgehen; also ging ich mit dem Mikrophon durchs Publikum, um zu fragen, ob es nötig war, in diesem Zusammenhang das dritte Reich zu erwähnen - aufgeregt war ich schon, denn sowas kann auch bös in die Hose gehen. Deshalb war mir in dem Moment nicht klar, was die Aussagekraft des ersten Mannes, den ich befragte eigentlich war - er sagte “Oh (Au), jetzt hab i ned aufbassd .. “ genauso war das damals Wie unfreiwillig treffend diese Situation war, wurde mir auch erst viel später bewusst. Beide Eltern waren bei der Veranstaltung anwesend und blieben zum üblichen Umtrunk. Es gibt vieles, was sich in meinem noch fortschreitenden Kompositionsleben noch zu erwähnen lohnte, - lohnte im Sinne von Bereicherung, - wie zB das Schachstück “Schach dem Dreiklang”, bei welchem 32 Musiker Schachfiguren repräsentieren - oder die Konzeption von “dieses Stück” seit 1975 - bzw die “...plus one” Serie seit 1998 - und auch, dass auf der Kapfenburg ein Zimmer nach mir benannt ist, obwohl ich noch lebe (Max Reger: “Komponisten und Schweine haben eines gemeinsam: sie werden erst nach dem Tode geschätzt”) und dass die gleiche Komposition: “O6oe”, bei der ich immer drauf hinweisen muss, dass die “6” nach dem “O” bewusst das “b” ersetzt, weil ich mit 6 Strukturtypen den Oboenklangereignissen nachging, also dass die dort in voller Länge in nämlichem Zimmer hängt und dann auch noch in “Bild der Wissenschaft”, Heft 12, 1992 abgebildet und besprochen wurde - nicht zu vergessen die Aufträge für Kuba “Cuatro Motivos sin Final” für Vierkanaltonband und Bewegung - Jeans letzter aktiver Auftritt in Varadero, 1985 oder für Bad Boll oder für 500 Jahre Rabelais, zeitgleich mit der ersten südafrikanischen Wahl 1995 - plus die vielen Co-Komponisten - und Instrumentalisten, ein weitergeführtes Konzept der Zusammenarbeit aus den 68 - Jahren
John Cage Manchmal kann man sich aber schon aufregen, etwa bei Durchgehen des Buches: Gödel, Escher, Bach (Pulitzer Preis 1979) von Douglas Hofstadter. Er vergleicht die Tonnamen von B-A-C-H mit denen von C-A-G-E und bescheinigt beiden das gleiche Gefälle. Vornehme Musiker sagen dazu “diasthematisch” - aber - er dreht es so hin: bei CAGE gibt es keinen Grund, das “G” so extrem hochzusetzen, es sei den man manipuliert es sich so zu recht (vgl Graphik: viel näher und logischer ist die untere Version). Im Herbst 1995 hatte ich das Vergnügen ihn in Montreal zu erleben - er versuchte mit über Computerprogrammationen Bach und Chopin nachzukomponieren. Es ging darum, ob der Computer Qualitäten erzeugen könne, welche in unserem Verständnis Tiefgang bzw Seele haben. Da nun der Computer anscheinend auch so verblüffend ähnlichen Tiefgang produzieren konnte, wie er, Douglas Hofstadter bisher in Bach/Chopin sah, hörte, erlebte, entlies er das widerspruchslose Gremium mit einem Dreipunktefazit: Da es nicht sein könne, dass der Computer Seele (Tiefgang) habe, sei es auch zweifelhaft, ob 1.Bach/Chopin überhaupt Tiefgang/Seele habe oder ob 2. Musik an sich Tiefgang/Seele habe oder ob es 3. Seele/Tiefgang überhaupt gibt. Beachtenswert war dann doch noch ein leise angehängter 4. Punkt, welcher von einem Selbstlacher begleitet die Frage stellte, ob er selbst Seelentiefgang habe. Soviel zu Manipulation und “Kunst der Unfuge”, hoppla, also “Kunst des Unfugs”.
Im Herbst 1991 bekam ich den Auftrag eine Orchesterkomposition für das Orchester des Süddeutschen Rundfunks zu schreiben, Aufführung November 1992 im Rosengarten, Mannheim - in dieser Zeit war John Cage in Stuttgart und meine Komposition wurde ihm gewidmet, was sich auch im Titel ausdrückt: eng(c)aged für Orchester und digitales Audioband. Am 12.8.1992, während meiner Hauptkompositionsphase starb John Cage, kurz vor seinem 80. Geburtstag (5.9.). Eine Reflexion darüber nannte ich Cage-Concern Das erste Buch, welches ich in New York mir zueignete, war “Silence” von John Cage. Schon die Umschlagseite betraf mich und gleichermassen jedoch: “To whom it may concern”. Ich Unterzeichnete, mich einem Pfeil signalisierend, dass ich betroffen sei und setzte das Datum dazu: Dezember 1969. John Cages Wortwahl hat eine eigene eigentümliche Qualität des “concerns”, des treffend betreffenden.
Zum eindrücklichen Ausdruck kommt dies natürlich in seinen Schriften - doch die sind ja nicht “live” (ein Ausspruch von ihm: “J’aime la musique vivante” und “I have no sound system at home), obwohl eben sie überdauern. Unsere “live” Begegnungen waren beides, zufällig und geplant. So hatte ich zB 1975 als Lehrer an der University of Natal, Durban, Südafrika, den Auftrag, John Cage zu überreden, ein Gastsemester im Apartheidstaat zu verbringen. Upstate New York war seine Waldhütte - von aussen sah ich die Pilzbücher, fehlte nur das Schachbrett und John Cage - beides geschah: Auf mein unmögliches Anliegen höre ich heute noch seine Antwort: “South Africa is supposed to be a wicked country” - und, nach kurzem Zögern “.... but we Americans should be careful with such statements.” Er wählte nicht die Worte “bad” oder “evil” und reflektierte gleich (concerned) die eigene Situation: Amerikaner waren damals noch in Vietnam.
Diese bedachte Wortwahl und das sanfte Umreissen komplexer Situationen in wenigen Worten behüteten mein Anliegen allerdings nicht von einer klaren Absage. Doch fast wie bedauerndes Mitgefühl kam die Frage nach meinem langen Rückflug nach Südafrika. - Er würde in solcher Lage Schachpartner im Flugzeug suchen und bot mir sein Steckschach an - leider fand er es nicht. Er zeigte mir noch die Computerauszüge (für die damalige Zeit “far advanced”) seiner Komposition mit Einbeziehung sogenannter ethnologischer Musik - Jahre später war ich bei der Aufführung in Bonn - und was es damals noch nicht gab, begleitet mich heute in der Luft: kleine Schachcomputer.
Zurück in Durban geschahen für diesen Zusammenhang zwei bemerkenswerte Momente: zum einen realisierten wir Cages Lecture “...Where are We Going and What are We Doing” aus “Silence”, Seite 195 - 259 für vier Sprechstimmen und zufällig waren vier ethnisch verschiedene Stimmen hörbar: südafrikanisches (Christopher Ballantine), amerikanisches (Dale Cockrell) und englisches (Peter Larlham) Englisch und meine Stimme spricht deutlich deutschen Akzent.
Die andere, zweite Geschichte war im Freien: Das Buch “A Year from Monday” lag vor mir, der Indische Ozean auch - es gab Wind, Apartheid, viel zum Nachdenken und “Silence”, wo eine meiner liebsten Geschichten steht, auf Seite 269, unten, kleingedruckt, als Cage beschreibend schreibt, wie er zu Krishnamurti ging, um ihn sprechen zu hören. Das Komplott, die punshline ist gut, sehr gut - besser ist wieder die sanfte Wortwahl und der Winkel aus welchem sich die Szene entwickelt: “Krishnamurti dozierte darüber, wie man einer Vorlesung zuhört. Er sagt: ‘Man muss ganz aufmerksam zuhören, was gesagt wird, und das geht nicht, wenn man sich Notizen macht’. Die Dame rechts neben mir machte sich Notizen. Der Mann rechts neben ihr ellbogisierte sie und sagte: ‘Hören Sie nicht, was er sagt: Sie sollen sich keine Notizen machen.’ Sie las, was sie aufgeschrieben hatte und sagte: ‘Stimmt. Ich habe es gerade hier auf meinem Block notiert’.”
Zurück zum Buch “A Year from Monday” vor mir - mit Sonne, Strand, Musik, Apartheid, Cage, Mozambique - irgendwann will ich abschalten und n i c h t lesen - in diesen Momenten war gar nichts (zu lesen) bestimmend, von “concern” - da sah ich ganz plötzlich und ganz sanft zugleich, wie sich das Buch selbst las: - die Blätter wurden langsam gewendet - es gab ein Verweilen - auch ein Zurückblättern gab es, als ob er/ich/Cage/Apartheid nicht verstanden hätte, was im Buch steht - klar war es der Wind ..... Jahre später erzählte ich ihm seine Geschichte in der Geschichte seiner Geschichten - er freute sich. Die für mich unübertroffene “concern”- Kompositionsmethodik steht am Ende von “Lecture on Nothing”: “All I know about method is that when I am not working I sometimes think I know something, but when I am working, it is quite clear that I know nothing.” Am 25.2.1974 war dieser Satz der Abschluss des Konzertes zur Eröffnung der Unisaison in Durban. In meinem Stück “Motetus” wurde er mit einer Bachmotette kombiniert, in welcher der Text vorkommt “Es ist nun nichts ....” Zuletzt sehe ich John Cage - immer aber zuletzt sass ich John Cage am 29.11.1991 gegenüber: Teilweise ging es um die Umsetzung von Schach in Musik - irgendwann gab es eine Pause - ich sagte nichts - John Cage auch nicht - noch weniger zu sagen gab es, als ich sah, dass er eingeschlafen war.
Bei meiner Komposition eng(c)aged 1992,1 versuchte ich, Abläufe offen zu halten, wie es John Cage sehr oft tat - aber wie macht man das bei einem relativ anonymen Apperat wie dem des Orchesters? Um die Persönlichkeit jedes einzelnen Spielers zu berücksichtigen, entwickelte ich ein System, den Geburtstag in Musik umzusetzen: der Tag ist die Taktzahl bei welcher der Spieler ins Geschehen eingreift, der Monat ist der Bezugston (12 Töne, 12 Monate) und das Geburtsjahr bestimmt den Rhythmus und den Tonvorrat. Diese Teile habe ich “AGE” genannt. Es gab vier solcher Teile. Cage, Dirigent, Komponist und elektronischer Mitarbeiter liefen als elektronische Orientierung mit. Es wollte der Zufall ?, dass beim ersten “AGE” Teil, welcher mit Cages Daten 5.9.1912 anfing, die digitale Zeitmessung 4’33” anzeigte (der Titel seines “Tacet” Stückes. Noch fantastischer, verrückter und unglaublicher war die Umsetzung seines Geburtsjahrs in Töne: im September geboren ergibt dies den 9. Bezugston “gis” oder “as”, welcher nun 1 wird. 9 (Halb)Töne weiter erreicht man “e”, 1 ist wieder “as” und 2 ist dann “a”. So wird aus 1912: “as-e-as-a”. Um mehr Töne zu bekommen wird auch die Umkehrung herangezogen, was “as-c-as-g” ergibt (vgl Graphik). Jetzt haben wir 8 Töne und viermal “as”. Wenn man die vier “as” (Plural von “as” bitte?) weglässt, was natürlich eine Manipulation ist - (es ist aber eine schöne Manipulation) - bleiben 4 Buchstaben/Töne übrig, nämlich “c - a - g - e” und das ist der Wahnsinn. John Cage und Martin Süße sind beide 1912 geboren. aber drei Momente waren so so schön: ...einmal, ca 1972 als Fussgänger am Broadway, klar, New York - ein Auto verlangsamt, die Fensterscheibe wird heruntergedreht “Hey, I liked your piece” - Quietsch weg wars, das Auto - the piece war “Analogy” - dann nocheinmal, nach meinem Komponistenportrait am 24.7.1997 schrieb mir Dieter Günzler eine Postkarte aus der ichdezidiert entnahm, dass er begeistert von dem Abend war und er konnte das soviel besser ausdrücken als ich jetzt, sodass ich ganz stolz auf mich wurde - von diesem Konzert gibts das Foto, in welchem André Marchand und ich “pppp” spielen ... das drittemal kann ich auch datieren: 5.6.2004, Staatsgalerie Stuttgart, eine Matinee, von der ich im Vorfeld nichts wusste, obwohl es im Gebäude neben der neuen Musikkhochschule stattfand. Bis auf den Interpreten, Klaus Dreher, welcher mein “percussion plus one” 2003,4 ins Programm brachte kannte ich auch niemanden, was ganz selten ist, da die “Szene” sich kennt und ziemlich inzestuös ist. Der Saal war voll und ich verfolgte alles von mittendrin. Bei meinem Stück merkte ich, dass es den Leuten gefiel, wohl weil es “anders” war und der Beifall war dann so anerkennend und meine Erhebung und Verbeugung demgemäss freudig, dass ich unwillkürlich dachte: “So muss es sein”. So hatte ich mir das als kleiner Junge in Maulbronn vorgestellt und es wohl im Wirrwarr des Spezialistentums vergessen. “Hau Bang”. Manche Träume begehen eine Wirklichkeit.
John Cage 1992 24.7.1997: Andre Marchand und Ulrich Suesse "pppp"