Christoph Bossert spielt im November 2013 an der Walcker Orgel in Hoffenheim Werke von sich, Ulrich Süße und Arnold Strebel.
Die Aufnahmen editierte Theo Herbst im September 2015 an der Universität Kapstadt.
Ursprünglich als CD geplant ist das Projekt jetzt auf youtube einseh-und-hörbar und etwas ausführlichere Kommentare sollen hier einen Platz haben:
Es gibt verschiedenste Zusammenhänge, welche zu dieser Aufnahme führten - einer ist der, dass Ulrich Süßes Studienwerke an der Orgel der Klosterkirche Maulbronn entstanden. Diese Orgel war von derselben Art, wie die heute noch existierende in Hoffenheim - auch die frühere Orgel an der Stiftskirche Stuttgart zählt dazu - bis 1945 war dort der Grossonkel von Süße, Arnold Strebel (1879 - 1949) Kantor und Organist.
Ein anderer Zusammenhang ist die Omnipraesenz von Bach, welche nicht nur im Orgelgenre kein Geheimnis ist. Die persönliche Erlebnis/Erfahrung mit seiner Musik begleitet eigentlich jeden durchs Leben.
So war es für Christoph Bossert sinnvoll, die unvollendete Fantasie C-Dur, BWV 573 in seiner und Strebels Ergänzung einzuspielen.
Des Weiteren sagt Christoph Bossert:
PERSÖNLICH
Es war einmal: Ein kleiner Junge. Der wuchs abseits großer Städte in einer herrlichen Landschaft auf – ein kleines Paradies war seine Heimat. Eine Hochebene war durchzogen von lieblichen Flußtälern, in die sich kleine Bauerndörfer hineinschmiegten. Der Hauch herrschaftlicher Vergangenheit lag förmlich in der Luft, denn auf Berghöhen lagen efeuumrankt die Residenzschlösschen. Die Zeit schien hier stillzustehen; jederzeit hätte die vierspännige Kutsche ein- oder ausfahren können, Bedienstete wären gelaufen, für einen Moment hätte das Landvolk einen Blick auf die Herrschaften erhaschen können.
In dieser Welt wuchs der kleine Junge heran und sog all das in sich ein, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Vom kleinen Landstädtchen aus, wo der Vater Pfarrer war, wurde diese Welt Zug um Zug erforscht. Mit den Schulfreunden wurden Eroberungszüge zu den Burgruinen der Umgebung unternommen. Doch das Größte war es, allein in die Welt hinauszufahren: Mit dem Fahrrad.
Der kleine Junge wollte gerne Klavier spielen. Nein, sagten die Eltern, Deine beiden Brüder haben sich schon damit abgequält, das soll Dir erspart bleiben. Dabei war der Klavierlehrer ein alter Organist aus Berlin, und dem kleinen Jungen war, als ob auf einmal aus weiter Ferne eine Ahnung aufstiege.
So ertrotzte sich der kleine Junge das Klavierspielen und durfte mit knapp neun Jahren endlich damit beginnen. Nicht jener alte Organist, sondern ein anderer, ein Schullehrer und Organist aus dem Nachbardorf wurde dann zum Auserkorenen. Welcher Zauber, wenn der Junge ihn bat, für ihn einen Liedsatz zu schreiben und er dann arpeggierend in die Tasten griff, dabei den Bleistift zwischen die Zähne presste und so mal spielte, mal schrieb, mal radierte, bis das kleine Werk in Noten dastand. So war die Welt aus Tönen und aus Noten nun genauso zum Staunen wie die herrliche Landschaft und die verwunschenen Burgen und Schlösser.
Der Junge saß eines Sonntagmorgens, als er inzwischen etwa zehneinhalb Jahre alt geworden war und die Eltern in der Kirche waren, im stillen Pfarrhaus ganz allein am Klavier. Ihm kam ein kleiner Walzer in den Sinn, den er den Tasten improvisierend entlockte und zum ersten Mal in seinem jungen Leben beschloss er, Papier und Füllfederhalter zu nehmen und das Stückchen aufzuschreiben. So kam also zur eigenen Überraschung das erste kleine eigene Musiklein in aller Unschuld zur Welt. In der Schule durfte er dann solche Künste im Musikunterricht vorführen und so wurde sein Talent dann irgendwie publik. Für die Schule sollte er zur Abschlussfeier eine kleine Kantate schreiben. Auch da lag Zauber in der Luft. Wenn er morgens im Bett lag, konnte er sich die Musik genau vorstellen und sogleich stellte sich eine Szenerie ein: Die Hofbediensteten liefen, ein Ausritt der Herrschaften wurde vorbereitet, das Signalhorn ertönte, die Herrschaften fuhren aus, die Jagd konnte beginnen.
Eine Jagdkantate also würde es werden! Und tatsächlich: Das kleine Werk wurde dann geprobt und aufgeführt. Zauber lag auch in der Luft, weil in jener Zeit auch eine neue Orgel gebaut wurde und es deren Klänge zu entdecken galt. Unvergesslich die Einweihung. In der brechend vollen Kirche konzertierte die Tochter eines früheren Pfarrers. Bach und moderne Werke waren zu hören. Unvergesslich aber auch die Aufführung einer festlichen Bachkantate. Noch nie zuvor war im kleinen Städtchen etwas Derartiges zu hören gewesen. So also weitete sich die Welt. Am Radio und auf Schallplatte konnte man Musik hören und das tat der Junge immer leidenschaftlicher. Ob er mit seinem Klavierlehrer darüber sprechen würde? Aber wie spricht man über Musik?
Eines Morgens – wieder war es um die Kirchzeit und ganz still zu Haus – entdeckte der Junge das d-Moll! Plötzlich konnte er selbst, wenn er in die Tasten griff, etwas erzeugen, was wie Händel oder gar Bach klang. Natürlich musste er das in der nächsten Klavierstunde vorführen! Und der Klavierlehrer war erstaunt: Du wirst es einmal weiter bringen als ich, waren seine Worte. Für das nächste Schulfest wollte man wieder eine Kantate haben; der Junge entschied sich für eine „Europakantate“, für die Lieder zusammenmontiert und Einleitungen sowie Übergänge komponiert wurden. Immer mehr Stücke für Klavier, für die Orgel und als Kammermusik entstanden. Wenn man in die Kreisstadt fuhr, konnte man hin und wieder ein Orgelkonzert hören. Nun mussten dazu unbedingt die Noten beschafft werden. Das war nicht leicht, denn vor Ort war nichts davon verfügbar. Es gelang. Und der Junge stürzte sich darauf, obwohl er bislang eigentlich kaum je einen Orgelunterricht erhalten hatte.
Mittlerweile wurde man auf den Jungen in einem kleinen malerisch gelegenen Dorf aufmerksam, in welchem schon sein Urgroßvater als Pfarrer gewirkt hatte. Das trug sich so zu: Der Junge spielte beim Schulfest eine Klaviersonate von Paradisi und das kam so gut an, dass die Leute aus dem Dorf sich wünschten, dass der Urenkel künftig bei ihnen am Sonntag die Orgel spielen solle. Aber was hatte der kleine Junge denn schon an Erfahrung für eine solche Aufgabe? Und wie solle er die zehn Kilometer dorthin und wieder zurück bewältigen, denn es ging zu diesem Dorf in ein tief eingeschnittenes Flußtal hinunter – also anschließend wieder hinauf zur Hochebene?
Das erste Mal saß der Junge mit knapp elf Jahren zum gottesdienstlichen Spiel auf der Orgelbank, weil die Organistin krank wurde und so schnell kein Ersatz zu finden war. Beim Frühstück fiel die Entscheidung: Papa, ich mach’s, sagte der Junge. Graupner erklang als Vor- und Nachspiel, und bei den Liedern gab’s kein Erbarmen: Gott der Vater wohn uns bei, so unbekannt, so gut. Wieso Graupner? Eine Partnergemeinde aus Ostdeutschland war mit einem sehr musikliebenden Pfarrer aus Weimar verbunden. Dieser war öfter einmal zu Gast. Es war immer ein kleines Musikfest, wenn dieser überaus freundliche und humorvolle Herr zu Besuch war. Dann nämlich frönte der Junge seiner geheimen Lieblingsbeschäftigung, nahm sich seinen dicken Gedichtband, schlug eine Ballade von Schiller auf und vertonte diese aus dem Stegreif, indem er vor keiner dramatischen Geste Halt machte, zugleich sang und spielte.
Dieser befreundete Pfarrer überließ dem Jungen die Sammlung seiner Klaviernoten. Und darunter waren auch „Graupner’s monatliche Klavierfrüchte“. Aber jede Woche konnte er doch, so dachte der Junge, wenn er über das Angebot der Nachbargemeinde nachdachte, unmöglich ein neues Vorspiel und ein neues Nachspiel vortragen; nein, das wäre nicht zu schaffen. Aber der Gedanke reizte ihn schon sehr. Vorstellbar war schon eher, dass er sich ein kleines Stückchen von acht Takten ausdenken könne; dann würde ihm schon etwas einfallen, um dann weiter zu improvisieren. So saß der Junge, inzwischen zwölf geworden, nun Woche für Woche auf der Orgelbank dieses kleinen Dörfchens im malerischen Flußtal. Das Fahrrad ließ er dann nach sechs Kilometern stehen und wanderte einen herrlichen Weg ins Tal hinunter. War er einmal zu spät, so saß die Frau des schwerkranken Ortspfarrers an der Orgel und war erleichtert, wenn sie nicht mehr weiterspielen musste. Zuweilen schloss sich dem Gottesdienst auch ein Besuch im Pfarrhaus an. Ein Tafelklavier stand dort bereit. Und als der Junge wieder einmal improvisierte – zunehmend gerne im Mozartstil – dann fiel das Wort: Mozart redivivus.
Dies blieb ebenso unvergesslich wie der Moment, als der Junge mit dem Gedanken spielte, was wohl geschehen würde, wenn er – obwohl die Füße eigentlich noch nicht dorthin reichten – wenigstens im Schlussakkord die tiefste Pedaltaste niederdrücken würde. Schließlich geschah es. Für den kleinen Jungen fühlte es sich an wie eine Heldentat, doch vermutlich hat es außer ihm niemand bemerkt und tatsächlich blieb alles heil…die mittelalterlichen Fresken des Chorgewölbes, unter dem er spielen durfte ebenso wie alles andere auch.
Nun war der kleine Junge gleichsam über Nacht zum Organisten geworden, erhielt dafür Geld; sogar Fahrtgeld. Er konnte nun sogar in die Großstadt fahren und sich im Musikgeschäft die Notenstapel reichen lassen. Da stand er dann am Tresen des berühmten Musikgeschäfts und las die Stücke durch. Ja, es war kein Problem, die Noten innerlich zu hören. So wählte er in Ruhe aus, brachte seine Beute nach Hause und stürzte sich so bald wie möglich darauf. Erstmals konnte er nun mit eigenen Händen greifen, was er zuvor im Orgelkonzert in der Kreisstadt hören durfte.
Als ein Organist brauchte der Junge nun natürlich Orgelunterricht. Nein, es sollte nicht der so verehrte Klavierlehrer aus dem Nachbardorf sein, denn der war inzwischen auch Musiklehrer am Gymnasium und der Junge damit dort sein Schüler. Als die Zeugnisnote in Musik dann keine „Eins“ war, kam es zu einem schmerzlichen Bruch.
Der Kirchenmusikdirektor der Kreisstadt war eine Respektsperson. Er war gebürtiger Schlesier und das meistgebrauchte Wort lautete „die Dissiplin“. Nach der ersten Begegnung weinte der Junge. Übungen am Klavier im Quintraum ohne Verzierungen war die verordnete Medisin. Der Orgelunterricht folgte erst Monate später. Ein dickes Bündel Noten hatte der Junge der Respektsperson übergeben. Wochen darauf war das Urteil, dass ein Stück daraus wie Händel klinge. Zu Hause unternahm der Junge auf seinem Fahrrad wilde Streifzüge zu Orgeln. Die Suche galt dem Principal 8 Fuß. Bis zu hundert Kilometer konnten die Touren lang werden, um von der Jugendherberge aus eine berühmte Orgel zu erobern. Eines Tages – es war eine Woche vor Ostern, Karwoche also, mußte der Junge sich ein Herz fassen und bei der fürstlichen Hofverwaltung vorstellig werden. Und als man ihm sagte, dass man selbst erfahrene Organisten nicht einfach vorlassen würde, deutete der Junge auf sein Fahrrad und sagte, er sei nun hundert Kilometer weit gefahren. Dann geschah das Wunder: Es wurde telefoniert. Ja, ein Orgelbauer hätte in den nächsten Tagen Reparaturen auszuführen. In dieser Zeit dürfe er dann an die Orgel. Das zweite Wunder: Der Orgelbauer hatte nichts dagegen, dass der Junge spielte, im Gegenteil, er durfte drei Tage bleiben. Er zeigte ihm dann auch das ganze Innere der großen und berühmten Orgel. Er war im Glück.
Als er bei seinem nächsten Unterricht der Respektsperson davon erzählte, fühlte der Junge sich seltsam, denn was er zu berichten hatte, fühlte sich eigenartig unwirklich an. Und er hatte auch deutlich das Gefühl, dass es genau so aufgenommen wurde. Unwirklich war es auch, als der Junge dann das erste Mal alleine an der großen Orgel der Kreisstadt spielen durfte. Wieder improvisierte er. Die Zeit war nach einer Stunde um und der Herr Kirchenmusikdirektor betrat die Kirche, kam zur Orgel, an der der Junge nun rasch zum Ende seiner Improvisation kam. Ob er das noch einmal wiederholen könne, wurde er gefragt. Nein, das ginge leider nicht, denn es sei improvisiert gewesen. Deutlich spürte der Junge, wie gerne er seinem Lehrer sein Können offenbart hätte, aber die Gelegenheit dazu stellte sich eigentümlicher Weise nicht ein.
Aus der zauberhaften Unbeschwertheit der früheren Jahre, dem Finden, dem Erobern, war etwas anderes geworden. Etwas schien nicht zu stimmen. Bei einem Orgelkonzert konnte der Junge den Rhythmus des Stückes nicht richtig erfassen. Als er zu Hause die Noten aufschlug, entnahm er diesen eine Auftaktstruktur, die wegen des Legato-Spiels, wie es im Konzert erklang, nicht zu erfassen war. Der Junge wagte es, seinen Lehrer in der nächsten Stunde – die noch immer am Klavier stattfand – danach zu fragen. Das war nicht wirklich erheiternd.
Mehr und mehr ging der Junge nun seinen eigenen Weg. Er saß Tag für Tag an der Orgel und eroberte sich Frescobaldi, Buxtehude, Walther, Reger, moderne Werke und schließlich, als er vierzehn Jahre alt war, Bachs Passacaglia. Warum die sechste Variation in Tonleitern aufwärts gehe und die sechsletzte in Dreiklängen, fragte er sich und schloss auf eine Antithese zwischen Tetrachord und Dreiklang, die zugleich aber durch Symmetrie verbunden wären. Das Warum und die Suche nach Antwort wurden seine ständigen Begleiter, seine Gesprächspartner. Mehr und mehr wurde das Auf- und vor allem das Hinter-sich-Zuschließen der Kirchentür zur Wohltat: Geschützter Raum, eine Welt voll Musik, eine Welt des so wundervoll spannenden Warum, eine Welt des Entdecken Könnens, eine Welt für sich, eine Welt aus sich heraus. Dieser Welt fehlte nichts.
Eine Stunde, bevor der Bus den Jungen einmal in der Woche in die Kreisstadt fuhr, mußte für das Pensum des Unterrichts genügen. Alle übrige Zeit floss in das autodidaktische Spiel. Dann kam die Zeit der großen Entscheidung: Die Wahl eines Internats. Diesen Weg hatten auch schon die beiden älteren Brüder des Jungen eingeschlagen, denn im Heimatort gab es nur ein Pro-Gymnasium, das mit der Mittleren Reife abschloss. Die Paten wurden zum Familienrat eingeladen und es kam zum Beschluss, dass, nicht zuletzt aus Gründen der Familientradition, der Wechsel in die evangelisch-theologischen Seminare nun anstünde.
Dem Jungen war klar: Das Ende der zauberhaften Zeit war angebrochen. Wo künftig ein Schutzraum wäre? Täglich mit anderen zusammen sein? Er war doch ein Einzelkämpfer, einer auf dem Fahrrad, einer, der das Warum als Gefährten hatte. Er war doch einer, der die Stille genoss. Und es hatte sich ja bereits auch zugetragen, dass der Junge, als er das Gedicht Ostia antica von Marie-Luise Kaschnitz vertonte und Bekannte dafür sorgten, dass die Dichterin diese Vertonung erhielt, dann zweimal Post von ihr erhielt: Ihr Schwiegersohn Dieter Schnebel habe es ihr vorgespielt und es als Hindemith-Nachfolge eingestuft; und ob er denn Neue Musik von Stockhausen, Nono, Ligeti oder Berio kenne.
Diese Namen hatte der Junge zuvor noch nie gehört.
Die Schwelle des Landesexamens als Kampf um einen der begehrten Freiplätze war zu nehmen. Und da war eine andere Schwelle: In den gut zwei Jahren seines Dienstes auf der Dorforgelbank war er zu einem Organisten geworden, der Bachs Passacaglia c-Moll und anderes mehr spielte, der Orgelwerke komponierte. Und er war sich bewusst, dass sein Lehrer davon nichts ahnte. Das konnte doch alles nicht sein, dachte er bei sich! Er malte sich den Plan aus, vor dem Wechsel in das Internat ein allererstes Orgelkonzert zu geben. Dies könnte dort im Dorf aber wegen der schlechten Orgel nicht stattfinden – aber warum nicht an der inzwischen zur Lieblingsorgel erkorenen pneumatischen Link-Orgel von 1906 oben auf dem Berg? Manchmal hatte er dort, wo ein prächtiges Schloss vom Glanz eines Fürstengeschlechts erzählt, in der Stadtkirche einen Abendgottesdienst gespielt und die Fürstin hatte sich dann sogar eigens bei ihm, dem kleinen Jungen, bedankt! Der Dekan des Städtchens war ein entfernter Verwandter und tatsächlich: Der stimmte zu; dort also durfte der Junge an Trinitatis sein erstes Orgelkonzert spielen.
Mittlerweile aber hatte die Mutter des Jungen aus Respekt vor dem Kirchenmusikdirektor der Kreisstadt diesem vom Plan des Orgelkonzerts erzählt. Entrüstung war die Folge. Keinesfalls dürfe der Junge Bachs Passacaglia spielen! In der Schule war man in zwei Lager gespalten: Der Herr Dekan war ja dafür! Aber eigentlich gehe es ja nicht an, sich dem Kirchenmusikdirektor der Kreisstadt zu widersetzen. Bald darauf fand das Orgelkonzert statt – mit Bachs Passacaglia als dem Schlussstück, davor, Frescobaldi, Buxtehude, Walther, Bach, Reger, Brunner, Schröder, ein eigenes Werk. Drei Tage später erhielten die Eltern des Jungen Post: Der Unterricht in der Kreisstadt sei ab sofort beendet.
Doch wäre der Unterricht ohnehin beendet gewesen, nur eben nicht unter solch unguten Vorzeichen, denn der Wechsel ins Internat stand ja unmittelbar bevor. Der Junge nahm sich vor, dass er fortan alles tun wolle, um mit seinem künftigen Lehrer im Einvernehmen zu sein. So berichtete er gleich zu Anfang von den misslichen Umständen zuvor. Der neue Lehrer wußte aber bereits Bescheid. Und der Junge fasste sich nun ein Herz: Er fragte, ob er ein Jahr später dort wieder ein Orgelkonzert spielen dürfe. Dann erklärte der neue Musiklehrer: „Erstens: Ja, das darfst du“; Zweitens: Ich kann dir nichts mehr beibringen; suche dir einen Unterricht in der Großstadt; Drittens: Dein drittes Orgelkonzert spielst Du dann hier“.
Martin Süße war Musiklehrer am evangelisch-theologischen Seminar Maulbronn. Er war mir, wie ungezählten Anderen, zeitlebens ein Vorbild. Für mein drittes Orgelkonzert schrieb ich das Choralvorspiel „In dich hab ich gehoffet, Herr“. Zwei Jahre später entwickelte ich daraus eine umfangreiche Psalmkomposition. Von seinem Sohn Ulrich Süße hieß es, er sei in New York, studiere bei Cage und Berio – allerdings sprach Martin Süße davon so gut wie nicht oder höchstens äußerst schmallippig. Zur Nachtzeit konnte man in Radio das Orchesterstück START von Ulrich Süße hören – Revolution lag in der Luft.
Bald darauf lernte ich Ulrich Süße in Maulbronn kennen: Bart, Sonnenbrille, Lederjacke, lange Haare. Meine Welt war allenfalls bis Johann Nepomuk David gediehen; plötzlich ging es um völlig anderes.
Ulrich Süße kommentiert das Projekt folgendermassen:
Der Titel „persönlich“ scheint im ersten Augenmerk - das Wort soll sehen und hören verbinden - den hier aufgezeichneten Kompositionen nicht zu entsprechen, da die meisten Kompositionen (Christoph Bosserts Choralbearbeitungen sind da auszunehmen) sich des Vokabulars von Stilrichtungen bedienen, welche objektiv benennbar sind: zwischen Barock und Spätromantik - allerdings ist das Umgehen mit diesen Stilen tatsächlich eine sehr persönliche Erfahrung bis hin zu der Konsequenz, andere Wege zu gehen und heute nicht mehr so zu schreiben ….
Die meisten meiner Kompositionen/Stücke entstanden zwischen 1964 und 67 im Bereich des Tonsatzes bei Erhard Karkoschka (1923 - 2009) und des liturgischen Orgelspiels bei Karl Gerok (1906-1975).
Quasi nebenbei: die hier verwendeten unterschiedlichen Begriffe „Komposition, Werk, Stück, Bearbeitung“ umreissen das vielfältige Spektrum des Erklingenden:
Es wurde angestrebt aus der (fast anonymen) Handwerklichkeit in den Bereich des Besonderen zu gelangen - ein Bereich, in welchem das Staunen und Erstaunen gegenüber genauer Formhaftigkeit oder regelkundlicher Abwicklung eine ebenbürtige, wahre, echte bzw sogar bevorzugte Daseinsberechtigung hat.
Es war mir also wichtig, eine Aura entstehen zu lassen - teilweise kann ich in den einzelnen Stücken mit sporadischen verbalen Anmerkungen darauf eingehen. Im vordergründigen Tonspektrum drückt es sich so aus, dass in eigentlich jedem Stück harmonische Wellen entstehen können, welche mindestens unerwartet sind oder in einer derart gestalteten Weise fliessen, an die man nicht hat denken können oder die - im Idealfall - einen Denkvorgang gar nicht zulassen.
Die einzelnen Aufnahmen mit einigen Kurzkommentaren, welche sich auch auf den youtube Einspielungen finden:
Johann Sebastian Bach: Fantasie C-Dur BWV 573 in der Ergänzung von Christoph Bossert 7’07“
Christoph Bossert: vier Choralvorspiele
„Du grosser Schmerzensmann“ 3’50“
„Gott ist gegenwärtig“ 2’
„In dich hab ich gehoffet, Herr“ 8’51“
„Wachet auf, ruft uns die Stimme“ 1’31“
Ulrich Süße: Choralvorspiele und Fugen
„Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“ 1’57“
auffällig ist die chromatische Linie im Pedal als ein Kompositionsprinzip, welches sich immer mehr ausdehnt - von 3 über 6 zu 8 Schritten
„Gib dich zufrieden und sei stille“ 3’51“
Stimmungsvorbild ist ua der 9. Satz aus der Kantate BWV 21 „sei nun wieder zufrieden“
Speziell erwähnenswert ist die Zuspitzung in den Takten 9 bis 11 und die Anbahnung und Ausführung einer Reprise in Takt 37ff
„Gott rufet noch“ 2’30“
… der Zusammenstoss von Grundton Es im Pedal beim zweiten cantus firmus Einsatz mit der Dominantharmonie der Oberstimmen (bei1’34“) ist eine Verbeugung gegenüber dem Anfang der Durchführung von Beethovens Eroica und der erneute Zusammenstoss des Grundtons (diesmal) C beim letzten cf Pedalton mit dem Neapolitaner der Oberstimmen (bei 2’02“) ist wieder eine Verbeugung, diesmal gegenüber Bruckner (9. Sinfonie, 1. Satz, Schlussteil) ….
„Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ 1’56“
….beim Üben dieses Choralvorspiels in der Förichtkirche Stuttgart-Feuerbach kam ein Herr zu mir an die Orgel und gab seiner Ratlosigkeit Ausdruck: er kenne alle Kompositionen von Bach und was ich jetzt gespielt habe war zweifelsfrei Bach, aber er kenne es nicht - etwas stolz konnte ich ihn beruhigen, dachte aber insgeheim, dass der Herr gegen Ende der Stilkopie das dreigestrichene g bzw dessen relative Höhe hätte wahrnehmen können, welche die oberste Taste, die Bach zur Verfügung stand ja weit überschritt …
„Herzliebster Jesu“ 5’10“
Typys colorierter cantus firmus im Sopran, wie bei „Nun komm der Heiden Heiland“, BWV 659 ….. uebrigens habe ich bis heute den Text von „Veni redemptor gentius“ nicht richtig verstanden, ich dachte immer, es sei u n s e r Heiland und die andern werden dabei auch ein wenig mitbedacht … oder wie war das in der Welt des Ambrosius?
wundersam finde ich das Ausholen des cf am Ende von Takt 10 und auch das Ausspielen auf der Ruheposition in Takt 22
„Wenn wir in höchsten Nöten sein“ 3’47“
… als ich mit der „Improvisation“ fertig war, meinte mein Lehrer Prof. Karl Gerok „Herr Süße, Sie können doch nicht etwas in G-Dur anfangen und dann in As-Dur aufhören“ … in meiner mir damals zueigenen nicht unfrechen Art replizierte ich „doch, ich habs ja eben getan“ …
Übrigens: der erste Satz von Schuberts erstem Streichquartett, D 18 fängt in c-moll an und hört mit einem D-Dur Sextakkord auf
aber zurück zu den Noten: sehr „gelungen“ finde ich die chromatischen Verwicklungen ab Takt 11 und deren Auflösung in Takt 13 - eine Extrabemerkung verdient der Septnonenakkord in Takt 18 auf Schlag 2 …
„Wie soll ich dich empfangen“ 2’30“
die zweite und dritte Zeile (cantus firmus im Tenor) gehen bewusst ineinander über: der Schlusston ist gleich dem Anfangston (Takt 6 auf Schlag 3), sodass die Worte „dir“ und „o“ übereinander „zusammenklingen“:
Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir
o aller Welt Verlangen ….
Wenn so etwas im formalen Bereich geschieht, haben meine früheren Kollegen dafür das Wort „Takterstickung“ geprägt - der (ebenfalls frühere) Kollege Helmut Lachenmann fand dies das schrecklichste Wort der Musiktheorie und begleitete dabei seinen Kommentar mit der Mimik einer Würgeprozedur, sodass ich davon Abstand nehmen will, den Vorgang hier mit etwa Zeilenerstickung oder Texterstickung zu benennen … allerdings bestand der Sinn der kompositorischen Vorgehensweise darin, die im Text enthaltene Ungeduld auszudrücken - etwas später (Takt 16) nehme ich Bezug auf eine der ergreifendsten Stellen in Bachs Musik: dem Takt 151 auf Schlag zwei des Orgelpräludiums Es-Dur, BWV 552….
„Wir danken dir, Herr Jesu Christ“ 4’40“
deutliche Anlehnung an Klavierstücke op76 und op116 bis 119 von Johannes Brahms, am deutlichsten ist die Analogie bei op116 Nr4, Takt 15ff und op119,1 Anfang
„Wo Gott der Herr nicht bei uns hält“ 1’42“
Von diesem Typus mit cantus firmus im Sopran gibt es schon im Orgelbüchlein zu Hauf: „Ach wie nichtig“, BWV 644 - „Alle Menschen müssen sterben“, BWV 643 - dann BWV 601, 609, 610, 621, 625, 632 usw
Der Schlussteil ca ab Takt 8 in seiner harmonischen, ja sogar rhythmischen Stringenz hat mir dergestalt zugesagt, dass ich das Stück bei meiner letzten Theorievorlesung im Februar 2005 auf der Orgel im Konzertsaal der Musikhochschule den Studenten dargeboten habe.
Doppelfuge d-moll nach einem Thema von Johann Ludwig Krebs (1713 - 1780) 3’31“
eine meiner Lieblingsstellen sind der dreiundsechzigstel Lauf gleich in der Exposition, Takt 11, sowie die Entfaltung über dem Orgelpunkt in Takt 36 und die Rückmodulation nach d-moll in Takt 40
Doppelfuge e-moll nach einem Thema von Gabriel Pierne (1863 - 1937) 2’47“
das zweite Thema erscheint in Takt 18 gleich zweistimmig und der chromatische Teil erreicht nach und nach eine Verkleinerungsgestalt
..…. in wundersam schauriger Erinnerung bleibt mir folgendes: als ich mir die letzten Takte auf dem heimischen Flügel zusammendramatisierte bekam meine Mutter in der nahen Küche das Schaudern ob des diabolischen Schlussgemetzels….
Fuge b-moll 3’54“
das einzige spätere Stück: im November 1969 an der Juilliard School of Music in New York war Luciano Berio misstrauisch gegenüber meinen avantgardistischen Avancen und wollte von mir einen Beweis meines traditionalistischen Könnens - da ich diese Arbeiten aber allesamt in Maulbronn gelassen hatte, schrieb ich diese Fuge - mit dem von mir bevorzugten nicht beibehaltenen Kontrapunkt und einer vierfachen Engführung, wie üblich gegen Schluss
Fuge c-moll (unvollendet) 2’16“
… hier entschied Karkoschka mir sagen zu wollen, ich solle aufhören, Fugen zu schreiben - Luciano Berio hat das offensichtlich nicht gehört
… ich mag das Auftauchen eines es-moll Akordes in Takt 10 und die Folge von zwei Septimakkorden in Takt 14, Schlag 4 (h - b im Bass)….sehr ….
Fuge fis-moll (unvollendet) 1’54“
irgendwann hat mich das „selbsterfundene“ Thema wegen des Sprungs einer grossen Septime aufwärts, vom Grundton in den Leitton, so gereizt, dass ich anfangen wollte, sie über die Exposition hinaus weiter/fertigzuschreiben, vor allem, als ich auf meinem Balkon in 6 Lydia Drive, Glenashley sass und vor mir der Indische Ozean signalisierte, dass diese Fuge die Anlage zur Doppelfuge habe und in den letzten Passagen eine Geschwindigkeitsverdoppelung wie ein Rauschen sich über alle Kombinationen ausbreiten würde, ohne an Glitzern zu verlieren - knusprig, knackig, frisch, crisp, greifend, ergreifend >>>>kein Wort würde es ausdrücken können … aber, geschehen ist es (noch) nicht … we’ll see
Johann Sebastian Bach: Fantasie C-Dur, BWV 573 in der Ergänzung von Arnold Strebel 3’33“
Diese Co/Komposition hat Ulrich Süße im Frühjahr 1963 zu seiner Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule Stuttgart gespielt - als er dann den Saal 108 verlassen hatte, kam die Professorin Viktoria Renz und meinte aufgeregt, er hätte die Noten liegengelassen - Süße konnte sie beruhigen mit der Aussage, dass er zuhause noch ein Exemplar hätte …
Die Aufnahmen editierte Theo Herbst im September 2015 an der Universität Kapstadt.
Ursprünglich als CD geplant ist das Projekt jetzt auf youtube einseh-und-hörbar und etwas ausführlichere Kommentare sollen hier einen Platz haben:
Es gibt verschiedenste Zusammenhänge, welche zu dieser Aufnahme führten - einer ist der, dass Ulrich Süßes Studienwerke an der Orgel der Klosterkirche Maulbronn entstanden. Diese Orgel war von derselben Art, wie die heute noch existierende in Hoffenheim - auch die frühere Orgel an der Stiftskirche Stuttgart zählt dazu - bis 1945 war dort der Grossonkel von Süße, Arnold Strebel (1879 - 1949) Kantor und Organist.
Ein anderer Zusammenhang ist die Omnipraesenz von Bach, welche nicht nur im Orgelgenre kein Geheimnis ist. Die persönliche Erlebnis/Erfahrung mit seiner Musik begleitet eigentlich jeden durchs Leben.
So war es für Christoph Bossert sinnvoll, die unvollendete Fantasie C-Dur, BWV 573 in seiner und Strebels Ergänzung einzuspielen.
Des Weiteren sagt Christoph Bossert:
PERSÖNLICH
Es war einmal: Ein kleiner Junge. Der wuchs abseits großer Städte in einer herrlichen Landschaft auf – ein kleines Paradies war seine Heimat. Eine Hochebene war durchzogen von lieblichen Flußtälern, in die sich kleine Bauerndörfer hineinschmiegten. Der Hauch herrschaftlicher Vergangenheit lag förmlich in der Luft, denn auf Berghöhen lagen efeuumrankt die Residenzschlösschen. Die Zeit schien hier stillzustehen; jederzeit hätte die vierspännige Kutsche ein- oder ausfahren können, Bedienstete wären gelaufen, für einen Moment hätte das Landvolk einen Blick auf die Herrschaften erhaschen können.
In dieser Welt wuchs der kleine Junge heran und sog all das in sich ein, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Vom kleinen Landstädtchen aus, wo der Vater Pfarrer war, wurde diese Welt Zug um Zug erforscht. Mit den Schulfreunden wurden Eroberungszüge zu den Burgruinen der Umgebung unternommen. Doch das Größte war es, allein in die Welt hinauszufahren: Mit dem Fahrrad.
Der kleine Junge wollte gerne Klavier spielen. Nein, sagten die Eltern, Deine beiden Brüder haben sich schon damit abgequält, das soll Dir erspart bleiben. Dabei war der Klavierlehrer ein alter Organist aus Berlin, und dem kleinen Jungen war, als ob auf einmal aus weiter Ferne eine Ahnung aufstiege.
So ertrotzte sich der kleine Junge das Klavierspielen und durfte mit knapp neun Jahren endlich damit beginnen. Nicht jener alte Organist, sondern ein anderer, ein Schullehrer und Organist aus dem Nachbardorf wurde dann zum Auserkorenen. Welcher Zauber, wenn der Junge ihn bat, für ihn einen Liedsatz zu schreiben und er dann arpeggierend in die Tasten griff, dabei den Bleistift zwischen die Zähne presste und so mal spielte, mal schrieb, mal radierte, bis das kleine Werk in Noten dastand. So war die Welt aus Tönen und aus Noten nun genauso zum Staunen wie die herrliche Landschaft und die verwunschenen Burgen und Schlösser.
Der Junge saß eines Sonntagmorgens, als er inzwischen etwa zehneinhalb Jahre alt geworden war und die Eltern in der Kirche waren, im stillen Pfarrhaus ganz allein am Klavier. Ihm kam ein kleiner Walzer in den Sinn, den er den Tasten improvisierend entlockte und zum ersten Mal in seinem jungen Leben beschloss er, Papier und Füllfederhalter zu nehmen und das Stückchen aufzuschreiben. So kam also zur eigenen Überraschung das erste kleine eigene Musiklein in aller Unschuld zur Welt. In der Schule durfte er dann solche Künste im Musikunterricht vorführen und so wurde sein Talent dann irgendwie publik. Für die Schule sollte er zur Abschlussfeier eine kleine Kantate schreiben. Auch da lag Zauber in der Luft. Wenn er morgens im Bett lag, konnte er sich die Musik genau vorstellen und sogleich stellte sich eine Szenerie ein: Die Hofbediensteten liefen, ein Ausritt der Herrschaften wurde vorbereitet, das Signalhorn ertönte, die Herrschaften fuhren aus, die Jagd konnte beginnen.
Eine Jagdkantate also würde es werden! Und tatsächlich: Das kleine Werk wurde dann geprobt und aufgeführt. Zauber lag auch in der Luft, weil in jener Zeit auch eine neue Orgel gebaut wurde und es deren Klänge zu entdecken galt. Unvergesslich die Einweihung. In der brechend vollen Kirche konzertierte die Tochter eines früheren Pfarrers. Bach und moderne Werke waren zu hören. Unvergesslich aber auch die Aufführung einer festlichen Bachkantate. Noch nie zuvor war im kleinen Städtchen etwas Derartiges zu hören gewesen. So also weitete sich die Welt. Am Radio und auf Schallplatte konnte man Musik hören und das tat der Junge immer leidenschaftlicher. Ob er mit seinem Klavierlehrer darüber sprechen würde? Aber wie spricht man über Musik?
Eines Morgens – wieder war es um die Kirchzeit und ganz still zu Haus – entdeckte der Junge das d-Moll! Plötzlich konnte er selbst, wenn er in die Tasten griff, etwas erzeugen, was wie Händel oder gar Bach klang. Natürlich musste er das in der nächsten Klavierstunde vorführen! Und der Klavierlehrer war erstaunt: Du wirst es einmal weiter bringen als ich, waren seine Worte. Für das nächste Schulfest wollte man wieder eine Kantate haben; der Junge entschied sich für eine „Europakantate“, für die Lieder zusammenmontiert und Einleitungen sowie Übergänge komponiert wurden. Immer mehr Stücke für Klavier, für die Orgel und als Kammermusik entstanden. Wenn man in die Kreisstadt fuhr, konnte man hin und wieder ein Orgelkonzert hören. Nun mussten dazu unbedingt die Noten beschafft werden. Das war nicht leicht, denn vor Ort war nichts davon verfügbar. Es gelang. Und der Junge stürzte sich darauf, obwohl er bislang eigentlich kaum je einen Orgelunterricht erhalten hatte.
Mittlerweile wurde man auf den Jungen in einem kleinen malerisch gelegenen Dorf aufmerksam, in welchem schon sein Urgroßvater als Pfarrer gewirkt hatte. Das trug sich so zu: Der Junge spielte beim Schulfest eine Klaviersonate von Paradisi und das kam so gut an, dass die Leute aus dem Dorf sich wünschten, dass der Urenkel künftig bei ihnen am Sonntag die Orgel spielen solle. Aber was hatte der kleine Junge denn schon an Erfahrung für eine solche Aufgabe? Und wie solle er die zehn Kilometer dorthin und wieder zurück bewältigen, denn es ging zu diesem Dorf in ein tief eingeschnittenes Flußtal hinunter – also anschließend wieder hinauf zur Hochebene?
Das erste Mal saß der Junge mit knapp elf Jahren zum gottesdienstlichen Spiel auf der Orgelbank, weil die Organistin krank wurde und so schnell kein Ersatz zu finden war. Beim Frühstück fiel die Entscheidung: Papa, ich mach’s, sagte der Junge. Graupner erklang als Vor- und Nachspiel, und bei den Liedern gab’s kein Erbarmen: Gott der Vater wohn uns bei, so unbekannt, so gut. Wieso Graupner? Eine Partnergemeinde aus Ostdeutschland war mit einem sehr musikliebenden Pfarrer aus Weimar verbunden. Dieser war öfter einmal zu Gast. Es war immer ein kleines Musikfest, wenn dieser überaus freundliche und humorvolle Herr zu Besuch war. Dann nämlich frönte der Junge seiner geheimen Lieblingsbeschäftigung, nahm sich seinen dicken Gedichtband, schlug eine Ballade von Schiller auf und vertonte diese aus dem Stegreif, indem er vor keiner dramatischen Geste Halt machte, zugleich sang und spielte.
Dieser befreundete Pfarrer überließ dem Jungen die Sammlung seiner Klaviernoten. Und darunter waren auch „Graupner’s monatliche Klavierfrüchte“. Aber jede Woche konnte er doch, so dachte der Junge, wenn er über das Angebot der Nachbargemeinde nachdachte, unmöglich ein neues Vorspiel und ein neues Nachspiel vortragen; nein, das wäre nicht zu schaffen. Aber der Gedanke reizte ihn schon sehr. Vorstellbar war schon eher, dass er sich ein kleines Stückchen von acht Takten ausdenken könne; dann würde ihm schon etwas einfallen, um dann weiter zu improvisieren. So saß der Junge, inzwischen zwölf geworden, nun Woche für Woche auf der Orgelbank dieses kleinen Dörfchens im malerischen Flußtal. Das Fahrrad ließ er dann nach sechs Kilometern stehen und wanderte einen herrlichen Weg ins Tal hinunter. War er einmal zu spät, so saß die Frau des schwerkranken Ortspfarrers an der Orgel und war erleichtert, wenn sie nicht mehr weiterspielen musste. Zuweilen schloss sich dem Gottesdienst auch ein Besuch im Pfarrhaus an. Ein Tafelklavier stand dort bereit. Und als der Junge wieder einmal improvisierte – zunehmend gerne im Mozartstil – dann fiel das Wort: Mozart redivivus.
Dies blieb ebenso unvergesslich wie der Moment, als der Junge mit dem Gedanken spielte, was wohl geschehen würde, wenn er – obwohl die Füße eigentlich noch nicht dorthin reichten – wenigstens im Schlussakkord die tiefste Pedaltaste niederdrücken würde. Schließlich geschah es. Für den kleinen Jungen fühlte es sich an wie eine Heldentat, doch vermutlich hat es außer ihm niemand bemerkt und tatsächlich blieb alles heil…die mittelalterlichen Fresken des Chorgewölbes, unter dem er spielen durfte ebenso wie alles andere auch.
Nun war der kleine Junge gleichsam über Nacht zum Organisten geworden, erhielt dafür Geld; sogar Fahrtgeld. Er konnte nun sogar in die Großstadt fahren und sich im Musikgeschäft die Notenstapel reichen lassen. Da stand er dann am Tresen des berühmten Musikgeschäfts und las die Stücke durch. Ja, es war kein Problem, die Noten innerlich zu hören. So wählte er in Ruhe aus, brachte seine Beute nach Hause und stürzte sich so bald wie möglich darauf. Erstmals konnte er nun mit eigenen Händen greifen, was er zuvor im Orgelkonzert in der Kreisstadt hören durfte.
Als ein Organist brauchte der Junge nun natürlich Orgelunterricht. Nein, es sollte nicht der so verehrte Klavierlehrer aus dem Nachbardorf sein, denn der war inzwischen auch Musiklehrer am Gymnasium und der Junge damit dort sein Schüler. Als die Zeugnisnote in Musik dann keine „Eins“ war, kam es zu einem schmerzlichen Bruch.
Der Kirchenmusikdirektor der Kreisstadt war eine Respektsperson. Er war gebürtiger Schlesier und das meistgebrauchte Wort lautete „die Dissiplin“. Nach der ersten Begegnung weinte der Junge. Übungen am Klavier im Quintraum ohne Verzierungen war die verordnete Medisin. Der Orgelunterricht folgte erst Monate später. Ein dickes Bündel Noten hatte der Junge der Respektsperson übergeben. Wochen darauf war das Urteil, dass ein Stück daraus wie Händel klinge. Zu Hause unternahm der Junge auf seinem Fahrrad wilde Streifzüge zu Orgeln. Die Suche galt dem Principal 8 Fuß. Bis zu hundert Kilometer konnten die Touren lang werden, um von der Jugendherberge aus eine berühmte Orgel zu erobern. Eines Tages – es war eine Woche vor Ostern, Karwoche also, mußte der Junge sich ein Herz fassen und bei der fürstlichen Hofverwaltung vorstellig werden. Und als man ihm sagte, dass man selbst erfahrene Organisten nicht einfach vorlassen würde, deutete der Junge auf sein Fahrrad und sagte, er sei nun hundert Kilometer weit gefahren. Dann geschah das Wunder: Es wurde telefoniert. Ja, ein Orgelbauer hätte in den nächsten Tagen Reparaturen auszuführen. In dieser Zeit dürfe er dann an die Orgel. Das zweite Wunder: Der Orgelbauer hatte nichts dagegen, dass der Junge spielte, im Gegenteil, er durfte drei Tage bleiben. Er zeigte ihm dann auch das ganze Innere der großen und berühmten Orgel. Er war im Glück.
Als er bei seinem nächsten Unterricht der Respektsperson davon erzählte, fühlte der Junge sich seltsam, denn was er zu berichten hatte, fühlte sich eigenartig unwirklich an. Und er hatte auch deutlich das Gefühl, dass es genau so aufgenommen wurde. Unwirklich war es auch, als der Junge dann das erste Mal alleine an der großen Orgel der Kreisstadt spielen durfte. Wieder improvisierte er. Die Zeit war nach einer Stunde um und der Herr Kirchenmusikdirektor betrat die Kirche, kam zur Orgel, an der der Junge nun rasch zum Ende seiner Improvisation kam. Ob er das noch einmal wiederholen könne, wurde er gefragt. Nein, das ginge leider nicht, denn es sei improvisiert gewesen. Deutlich spürte der Junge, wie gerne er seinem Lehrer sein Können offenbart hätte, aber die Gelegenheit dazu stellte sich eigentümlicher Weise nicht ein.
Aus der zauberhaften Unbeschwertheit der früheren Jahre, dem Finden, dem Erobern, war etwas anderes geworden. Etwas schien nicht zu stimmen. Bei einem Orgelkonzert konnte der Junge den Rhythmus des Stückes nicht richtig erfassen. Als er zu Hause die Noten aufschlug, entnahm er diesen eine Auftaktstruktur, die wegen des Legato-Spiels, wie es im Konzert erklang, nicht zu erfassen war. Der Junge wagte es, seinen Lehrer in der nächsten Stunde – die noch immer am Klavier stattfand – danach zu fragen. Das war nicht wirklich erheiternd.
Mehr und mehr ging der Junge nun seinen eigenen Weg. Er saß Tag für Tag an der Orgel und eroberte sich Frescobaldi, Buxtehude, Walther, Reger, moderne Werke und schließlich, als er vierzehn Jahre alt war, Bachs Passacaglia. Warum die sechste Variation in Tonleitern aufwärts gehe und die sechsletzte in Dreiklängen, fragte er sich und schloss auf eine Antithese zwischen Tetrachord und Dreiklang, die zugleich aber durch Symmetrie verbunden wären. Das Warum und die Suche nach Antwort wurden seine ständigen Begleiter, seine Gesprächspartner. Mehr und mehr wurde das Auf- und vor allem das Hinter-sich-Zuschließen der Kirchentür zur Wohltat: Geschützter Raum, eine Welt voll Musik, eine Welt des so wundervoll spannenden Warum, eine Welt des Entdecken Könnens, eine Welt für sich, eine Welt aus sich heraus. Dieser Welt fehlte nichts.
Eine Stunde, bevor der Bus den Jungen einmal in der Woche in die Kreisstadt fuhr, mußte für das Pensum des Unterrichts genügen. Alle übrige Zeit floss in das autodidaktische Spiel. Dann kam die Zeit der großen Entscheidung: Die Wahl eines Internats. Diesen Weg hatten auch schon die beiden älteren Brüder des Jungen eingeschlagen, denn im Heimatort gab es nur ein Pro-Gymnasium, das mit der Mittleren Reife abschloss. Die Paten wurden zum Familienrat eingeladen und es kam zum Beschluss, dass, nicht zuletzt aus Gründen der Familientradition, der Wechsel in die evangelisch-theologischen Seminare nun anstünde.
Dem Jungen war klar: Das Ende der zauberhaften Zeit war angebrochen. Wo künftig ein Schutzraum wäre? Täglich mit anderen zusammen sein? Er war doch ein Einzelkämpfer, einer auf dem Fahrrad, einer, der das Warum als Gefährten hatte. Er war doch einer, der die Stille genoss. Und es hatte sich ja bereits auch zugetragen, dass der Junge, als er das Gedicht Ostia antica von Marie-Luise Kaschnitz vertonte und Bekannte dafür sorgten, dass die Dichterin diese Vertonung erhielt, dann zweimal Post von ihr erhielt: Ihr Schwiegersohn Dieter Schnebel habe es ihr vorgespielt und es als Hindemith-Nachfolge eingestuft; und ob er denn Neue Musik von Stockhausen, Nono, Ligeti oder Berio kenne.
Diese Namen hatte der Junge zuvor noch nie gehört.
Die Schwelle des Landesexamens als Kampf um einen der begehrten Freiplätze war zu nehmen. Und da war eine andere Schwelle: In den gut zwei Jahren seines Dienstes auf der Dorforgelbank war er zu einem Organisten geworden, der Bachs Passacaglia c-Moll und anderes mehr spielte, der Orgelwerke komponierte. Und er war sich bewusst, dass sein Lehrer davon nichts ahnte. Das konnte doch alles nicht sein, dachte er bei sich! Er malte sich den Plan aus, vor dem Wechsel in das Internat ein allererstes Orgelkonzert zu geben. Dies könnte dort im Dorf aber wegen der schlechten Orgel nicht stattfinden – aber warum nicht an der inzwischen zur Lieblingsorgel erkorenen pneumatischen Link-Orgel von 1906 oben auf dem Berg? Manchmal hatte er dort, wo ein prächtiges Schloss vom Glanz eines Fürstengeschlechts erzählt, in der Stadtkirche einen Abendgottesdienst gespielt und die Fürstin hatte sich dann sogar eigens bei ihm, dem kleinen Jungen, bedankt! Der Dekan des Städtchens war ein entfernter Verwandter und tatsächlich: Der stimmte zu; dort also durfte der Junge an Trinitatis sein erstes Orgelkonzert spielen.
Mittlerweile aber hatte die Mutter des Jungen aus Respekt vor dem Kirchenmusikdirektor der Kreisstadt diesem vom Plan des Orgelkonzerts erzählt. Entrüstung war die Folge. Keinesfalls dürfe der Junge Bachs Passacaglia spielen! In der Schule war man in zwei Lager gespalten: Der Herr Dekan war ja dafür! Aber eigentlich gehe es ja nicht an, sich dem Kirchenmusikdirektor der Kreisstadt zu widersetzen. Bald darauf fand das Orgelkonzert statt – mit Bachs Passacaglia als dem Schlussstück, davor, Frescobaldi, Buxtehude, Walther, Bach, Reger, Brunner, Schröder, ein eigenes Werk. Drei Tage später erhielten die Eltern des Jungen Post: Der Unterricht in der Kreisstadt sei ab sofort beendet.
Doch wäre der Unterricht ohnehin beendet gewesen, nur eben nicht unter solch unguten Vorzeichen, denn der Wechsel ins Internat stand ja unmittelbar bevor. Der Junge nahm sich vor, dass er fortan alles tun wolle, um mit seinem künftigen Lehrer im Einvernehmen zu sein. So berichtete er gleich zu Anfang von den misslichen Umständen zuvor. Der neue Lehrer wußte aber bereits Bescheid. Und der Junge fasste sich nun ein Herz: Er fragte, ob er ein Jahr später dort wieder ein Orgelkonzert spielen dürfe. Dann erklärte der neue Musiklehrer: „Erstens: Ja, das darfst du“; Zweitens: Ich kann dir nichts mehr beibringen; suche dir einen Unterricht in der Großstadt; Drittens: Dein drittes Orgelkonzert spielst Du dann hier“.
Martin Süße war Musiklehrer am evangelisch-theologischen Seminar Maulbronn. Er war mir, wie ungezählten Anderen, zeitlebens ein Vorbild. Für mein drittes Orgelkonzert schrieb ich das Choralvorspiel „In dich hab ich gehoffet, Herr“. Zwei Jahre später entwickelte ich daraus eine umfangreiche Psalmkomposition. Von seinem Sohn Ulrich Süße hieß es, er sei in New York, studiere bei Cage und Berio – allerdings sprach Martin Süße davon so gut wie nicht oder höchstens äußerst schmallippig. Zur Nachtzeit konnte man in Radio das Orchesterstück START von Ulrich Süße hören – Revolution lag in der Luft.
Bald darauf lernte ich Ulrich Süße in Maulbronn kennen: Bart, Sonnenbrille, Lederjacke, lange Haare. Meine Welt war allenfalls bis Johann Nepomuk David gediehen; plötzlich ging es um völlig anderes.
Ulrich Süße kommentiert das Projekt folgendermassen:
Der Titel „persönlich“ scheint im ersten Augenmerk - das Wort soll sehen und hören verbinden - den hier aufgezeichneten Kompositionen nicht zu entsprechen, da die meisten Kompositionen (Christoph Bosserts Choralbearbeitungen sind da auszunehmen) sich des Vokabulars von Stilrichtungen bedienen, welche objektiv benennbar sind: zwischen Barock und Spätromantik - allerdings ist das Umgehen mit diesen Stilen tatsächlich eine sehr persönliche Erfahrung bis hin zu der Konsequenz, andere Wege zu gehen und heute nicht mehr so zu schreiben ….
Die meisten meiner Kompositionen/Stücke entstanden zwischen 1964 und 67 im Bereich des Tonsatzes bei Erhard Karkoschka (1923 - 2009) und des liturgischen Orgelspiels bei Karl Gerok (1906-1975).
Quasi nebenbei: die hier verwendeten unterschiedlichen Begriffe „Komposition, Werk, Stück, Bearbeitung“ umreissen das vielfältige Spektrum des Erklingenden:
Es wurde angestrebt aus der (fast anonymen) Handwerklichkeit in den Bereich des Besonderen zu gelangen - ein Bereich, in welchem das Staunen und Erstaunen gegenüber genauer Formhaftigkeit oder regelkundlicher Abwicklung eine ebenbürtige, wahre, echte bzw sogar bevorzugte Daseinsberechtigung hat.
Es war mir also wichtig, eine Aura entstehen zu lassen - teilweise kann ich in den einzelnen Stücken mit sporadischen verbalen Anmerkungen darauf eingehen. Im vordergründigen Tonspektrum drückt es sich so aus, dass in eigentlich jedem Stück harmonische Wellen entstehen können, welche mindestens unerwartet sind oder in einer derart gestalteten Weise fliessen, an die man nicht hat denken können oder die - im Idealfall - einen Denkvorgang gar nicht zulassen.
Die einzelnen Aufnahmen mit einigen Kurzkommentaren, welche sich auch auf den youtube Einspielungen finden:
Johann Sebastian Bach: Fantasie C-Dur BWV 573 in der Ergänzung von Christoph Bossert 7’07“
Christoph Bossert: vier Choralvorspiele
„Du grosser Schmerzensmann“ 3’50“
„Gott ist gegenwärtig“ 2’
„In dich hab ich gehoffet, Herr“ 8’51“
„Wachet auf, ruft uns die Stimme“ 1’31“
Ulrich Süße: Choralvorspiele und Fugen
„Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“ 1’57“
auffällig ist die chromatische Linie im Pedal als ein Kompositionsprinzip, welches sich immer mehr ausdehnt - von 3 über 6 zu 8 Schritten
„Gib dich zufrieden und sei stille“ 3’51“
Stimmungsvorbild ist ua der 9. Satz aus der Kantate BWV 21 „sei nun wieder zufrieden“
Speziell erwähnenswert ist die Zuspitzung in den Takten 9 bis 11 und die Anbahnung und Ausführung einer Reprise in Takt 37ff
„Gott rufet noch“ 2’30“
… der Zusammenstoss von Grundton Es im Pedal beim zweiten cantus firmus Einsatz mit der Dominantharmonie der Oberstimmen (bei1’34“) ist eine Verbeugung gegenüber dem Anfang der Durchführung von Beethovens Eroica und der erneute Zusammenstoss des Grundtons (diesmal) C beim letzten cf Pedalton mit dem Neapolitaner der Oberstimmen (bei 2’02“) ist wieder eine Verbeugung, diesmal gegenüber Bruckner (9. Sinfonie, 1. Satz, Schlussteil) ….
„Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ 1’56“
….beim Üben dieses Choralvorspiels in der Förichtkirche Stuttgart-Feuerbach kam ein Herr zu mir an die Orgel und gab seiner Ratlosigkeit Ausdruck: er kenne alle Kompositionen von Bach und was ich jetzt gespielt habe war zweifelsfrei Bach, aber er kenne es nicht - etwas stolz konnte ich ihn beruhigen, dachte aber insgeheim, dass der Herr gegen Ende der Stilkopie das dreigestrichene g bzw dessen relative Höhe hätte wahrnehmen können, welche die oberste Taste, die Bach zur Verfügung stand ja weit überschritt …
„Herzliebster Jesu“ 5’10“
Typys colorierter cantus firmus im Sopran, wie bei „Nun komm der Heiden Heiland“, BWV 659 ….. uebrigens habe ich bis heute den Text von „Veni redemptor gentius“ nicht richtig verstanden, ich dachte immer, es sei u n s e r Heiland und die andern werden dabei auch ein wenig mitbedacht … oder wie war das in der Welt des Ambrosius?
wundersam finde ich das Ausholen des cf am Ende von Takt 10 und auch das Ausspielen auf der Ruheposition in Takt 22
„Wenn wir in höchsten Nöten sein“ 3’47“
… als ich mit der „Improvisation“ fertig war, meinte mein Lehrer Prof. Karl Gerok „Herr Süße, Sie können doch nicht etwas in G-Dur anfangen und dann in As-Dur aufhören“ … in meiner mir damals zueigenen nicht unfrechen Art replizierte ich „doch, ich habs ja eben getan“ …
Übrigens: der erste Satz von Schuberts erstem Streichquartett, D 18 fängt in c-moll an und hört mit einem D-Dur Sextakkord auf
aber zurück zu den Noten: sehr „gelungen“ finde ich die chromatischen Verwicklungen ab Takt 11 und deren Auflösung in Takt 13 - eine Extrabemerkung verdient der Septnonenakkord in Takt 18 auf Schlag 2 …
„Wie soll ich dich empfangen“ 2’30“
die zweite und dritte Zeile (cantus firmus im Tenor) gehen bewusst ineinander über: der Schlusston ist gleich dem Anfangston (Takt 6 auf Schlag 3), sodass die Worte „dir“ und „o“ übereinander „zusammenklingen“:
Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir
o aller Welt Verlangen ….
Wenn so etwas im formalen Bereich geschieht, haben meine früheren Kollegen dafür das Wort „Takterstickung“ geprägt - der (ebenfalls frühere) Kollege Helmut Lachenmann fand dies das schrecklichste Wort der Musiktheorie und begleitete dabei seinen Kommentar mit der Mimik einer Würgeprozedur, sodass ich davon Abstand nehmen will, den Vorgang hier mit etwa Zeilenerstickung oder Texterstickung zu benennen … allerdings bestand der Sinn der kompositorischen Vorgehensweise darin, die im Text enthaltene Ungeduld auszudrücken - etwas später (Takt 16) nehme ich Bezug auf eine der ergreifendsten Stellen in Bachs Musik: dem Takt 151 auf Schlag zwei des Orgelpräludiums Es-Dur, BWV 552….
„Wir danken dir, Herr Jesu Christ“ 4’40“
deutliche Anlehnung an Klavierstücke op76 und op116 bis 119 von Johannes Brahms, am deutlichsten ist die Analogie bei op116 Nr4, Takt 15ff und op119,1 Anfang
„Wo Gott der Herr nicht bei uns hält“ 1’42“
Von diesem Typus mit cantus firmus im Sopran gibt es schon im Orgelbüchlein zu Hauf: „Ach wie nichtig“, BWV 644 - „Alle Menschen müssen sterben“, BWV 643 - dann BWV 601, 609, 610, 621, 625, 632 usw
Der Schlussteil ca ab Takt 8 in seiner harmonischen, ja sogar rhythmischen Stringenz hat mir dergestalt zugesagt, dass ich das Stück bei meiner letzten Theorievorlesung im Februar 2005 auf der Orgel im Konzertsaal der Musikhochschule den Studenten dargeboten habe.
Doppelfuge d-moll nach einem Thema von Johann Ludwig Krebs (1713 - 1780) 3’31“
eine meiner Lieblingsstellen sind der dreiundsechzigstel Lauf gleich in der Exposition, Takt 11, sowie die Entfaltung über dem Orgelpunkt in Takt 36 und die Rückmodulation nach d-moll in Takt 40
Doppelfuge e-moll nach einem Thema von Gabriel Pierne (1863 - 1937) 2’47“
das zweite Thema erscheint in Takt 18 gleich zweistimmig und der chromatische Teil erreicht nach und nach eine Verkleinerungsgestalt
..…. in wundersam schauriger Erinnerung bleibt mir folgendes: als ich mir die letzten Takte auf dem heimischen Flügel zusammendramatisierte bekam meine Mutter in der nahen Küche das Schaudern ob des diabolischen Schlussgemetzels….
Fuge b-moll 3’54“
das einzige spätere Stück: im November 1969 an der Juilliard School of Music in New York war Luciano Berio misstrauisch gegenüber meinen avantgardistischen Avancen und wollte von mir einen Beweis meines traditionalistischen Könnens - da ich diese Arbeiten aber allesamt in Maulbronn gelassen hatte, schrieb ich diese Fuge - mit dem von mir bevorzugten nicht beibehaltenen Kontrapunkt und einer vierfachen Engführung, wie üblich gegen Schluss
Fuge c-moll (unvollendet) 2’16“
… hier entschied Karkoschka mir sagen zu wollen, ich solle aufhören, Fugen zu schreiben - Luciano Berio hat das offensichtlich nicht gehört
… ich mag das Auftauchen eines es-moll Akordes in Takt 10 und die Folge von zwei Septimakkorden in Takt 14, Schlag 4 (h - b im Bass)….sehr ….
Fuge fis-moll (unvollendet) 1’54“
irgendwann hat mich das „selbsterfundene“ Thema wegen des Sprungs einer grossen Septime aufwärts, vom Grundton in den Leitton, so gereizt, dass ich anfangen wollte, sie über die Exposition hinaus weiter/fertigzuschreiben, vor allem, als ich auf meinem Balkon in 6 Lydia Drive, Glenashley sass und vor mir der Indische Ozean signalisierte, dass diese Fuge die Anlage zur Doppelfuge habe und in den letzten Passagen eine Geschwindigkeitsverdoppelung wie ein Rauschen sich über alle Kombinationen ausbreiten würde, ohne an Glitzern zu verlieren - knusprig, knackig, frisch, crisp, greifend, ergreifend >>>>kein Wort würde es ausdrücken können … aber, geschehen ist es (noch) nicht … we’ll see
Johann Sebastian Bach: Fantasie C-Dur, BWV 573 in der Ergänzung von Arnold Strebel 3’33“
Diese Co/Komposition hat Ulrich Süße im Frühjahr 1963 zu seiner Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule Stuttgart gespielt - als er dann den Saal 108 verlassen hatte, kam die Professorin Viktoria Renz und meinte aufgeregt, er hätte die Noten liegengelassen - Süße konnte sie beruhigen mit der Aussage, dass er zuhause noch ein Exemplar hätte …