Im Spektrum zur 150 Jahre Zelebration der Musikhochschule Stuttgart habe ich zu Erhard Karkoschka folgende Buchstaben, Worte und Sätze gefunden:
Eine Stunde mit Erhard Karkoschka
ist für mich nie eine Stunde gewesen, selbst wenn sie exakt 60 Minuten gedauert hat - es war immer ein erlebnisreiches Phänomen von besonderster Art - annähernd heute zu kennzeichnen mit dem Anglizismus "quality time“.
Richtig voll los mit der ersten Stunde gings vor 44 Jahren, im Frühjahr 1963: Tonsatz im 1. Semester im 4. Stock, Urbansplatz 2 - und da wurde vom präzisesten Handwerk des Kontrapunktes a la Palestrina bis zu Rauschenbergs "erased masterpiece" eine phantastische Welt geöffnet, zwischen bitteren Notwendigkeiten (Examina) und expandierenden Kunstflügen.
Höhepunkte herauszugreifen wäre inadäquat da alles um-mit-von-durch Karkoschka mitdurchdringend umfassender Vollkraft geschah. Trotzdem waren die Vorlesungen über Neue Musik (Mittwochs, 11.00 Uhr in Ub 102) speziell zündend: ganz genau erinnere ich mich, wie ich als embryonaler Komponist in der Vorlesung sitze und mir die Zukunft der Musik versuche vorzustellen: es ergab sich das deprimierende Bild eines Ackers mit dunklen, schweren Schollen, dessen Begrenztheit vom Nebel noch betont wurde. Und dann kam Karkoschka mit der Analyse seiner Bewegungs/Strukturen für zwei Klaviere und der Nebel verzog sich, ein weites breites Feld der Möglichkeiten öffnete sich.Quattrologe mit der Hörpartiturkonzeption, Psylexmit dem Tonbandschleifenverfahren und 4 Stufenals Strukturalismus per se begleiten mich heute noch.
Ansätze, Musik neu zu denken hatten fuchtbare (>>>das fehlende "r" nach individuellem Belieben einsetzen) Konsequenzen bis in den Alltag rein: die Glückwünsche zu einem seiner Geburtstage neulich waren von mir so klein gefertigt, dass er sie nur mit der als Geschenk gedachten Lupe hat lesen können.
Rivalen um die nächsten Höhepunkte sind: Kompositionsunterricht als Austausch - Ensemble Neue Musik - Darmstadtseminare über phänomenologische Analyse mit folgendem Buch, in welchem Karkoschka uns Studenten Mitautorenschaft gab - bei der Feier in der Wohnung in der Nellingerstrasse war der Fruchtkuchen von einem Jung-Karkoschka versalzen worden (briefliche Entschuldigung folgte) - Elektronisches Studio - und dann:
Diplomatie pur: als ich 1976 Kollege wurde, fragte ich ihn (noch vom Fernrausch New York/Südafrika beimpft), warum er es solange in Stuttgart ausgehalten habe -? "Ich wurde ausgehalten". Das wurden dann, von mir aus betrachtet noch weitere 30 Jahre.
Karkoschka als Experimentierer sei noch eine Neuerung gewidmet: wie es in Musik ausser Krebs noch Umkehrung gibt, sollte dies mit Worten ebenfalls möglich sein. Hier eine der Umkehrmanipulationen seines Namens:
ERBIRF YIRYUQGBYI
Danke Erhard, du bist ein Phänomen.
Das Folgende ist ein Zwischentext: zwischen Erhard und mir gab es keinerlei kompositorische Lösungsmaxime wie zB: soll das Konstruktionsprinzip verraten werden oder nicht - er hat nichts der/sgleichen, weder als Lehrer noch als Kollege verfochten - gut, er wollte viel Klarheit (vgl Hörpartituren und Notation) und Objektivität (vgl phänomenologische Analyse) mit der Tendenz, absolute Wahrheiten greif- und formulierbar werden zu lassen. Deshalb will ich hier solche “Internas” gewissermassen als Zwischentextstudie ihm gerne nachrufen: im obigen Text fehlte mir der Platz dazu und ausserdem wäre es zu sehr fachsimpelhaft gewesen ... in diesem Zwischentextkonstrukt fühlt es sich nun aber richtig, das Permutationsverfahren mit Buchstaben profan zu erläutern .... und ich hätte gerne mit ihm darüber gesprochen .... unser letztes direktes Gespräch am 24.1.2008 auf Schloss Kapfenburg war aber geprägt von anderen Interessen seiner letzten Zeit (Wohltemperiertheit, Bartok/Bach zB).
In dem Buchstabenverfahren oben habe ich nun den Buchstaben eine Zahl beigegeben (A ist 1 und Z ist 26)- ein simples, oft gebrauchtes Objektivitätsverfahren: B-A-C-H = 2 - 1 - 3 - 8. Aus E-R-H-A-R-D wurde so die Zahlenfolge 5 - 18 - 8 - 1 - 18 - 4. Ich habe nun die Differenz zwischen den Zahlen/Buchstaben festgestellt (von “E” gehe ich 13 Schritte nach rechts bis ich auf “R” treffe und verbuche das als + 13, von “R” nach “H” gehe ich 10 Schritte nach links und verbuche das als -10, also rechts = + und links = -, dann also “H” nach “A” -7, “A” nach “R” +17, und schliesslich “R” nach “D” -14). Nun werden diese Schritte umgedreht: Statt von E nach R 13 Schritte nach rechts zu gehen, gehe ich beim Umkehrverfahren nun 13 Schritte nach links und lande, Oh Wunder wieder bei “R”, was bei genauerem Inspizieren allerdings nicht so wundermässig ist, da das Alphabet 26 Buchstaben hat und wenn ich die 13 als Schrittzahl habe und einmal in diese Richtung gehe und dann in die andere, ergibt das natürlich 26 Schritte und somit einen sich schliessenden Kreis. So entstand also
ERBIRF YIRYUQGBYI
Wenn das nicht böhmisch (-mährisch) klyingt....
Inzwischen ist Erhard Karkoschka am 26.6.2009 in Ruhe und zu Hause eingeschlafen.
Den vorigen Zeilen, welche in einer Annäherung an die Form des Akrostichons komponiert wurden (die Buchstaben seines Namens - jeweils “fett” gezeichnet - bilden die Anfänge von Abschnitten) darf ich aus einer unendlichen Erlebnisfülle Einiges auswählend hinzusetzen:
Es war einfach immer was los bei/mit/um Karkoschka: überraschend, informativ, fragend, aufreizend, lebendig, geistreich, ungewöhnlich, nie lehrmeisternd oder zeigefingermahnend.
Total beeindruckend in dieser meiner Erlebniszeit, beginnend 1963 war der Geist der freien Rede - wo ansonsten bei geschätzten 7 Vorlesungen pro Student pro Woche von den Dozenten wirklich nur vorgelesen wurde, bewegte sich Karkoschka meistens neben dem Pult in einer sportlichen Hochkultur und faszinierte durch die Plastizität der Sache.
Diese waren: Komposition in fast radikaler Neuheit mit der Verfechtung von - auch aussermusikalischen Ideen als treibenden Kräfte´n; Analyse, als Weg zur Erkenntnis; neue Formen des Vermittelns, um die Spezialistenkluft zu veringern (Stichworte: Notation und Hörpartitur); Äesthetik, mit dem Ziel über die Musikhandwerklichkeit hinaus den Fantastikbereich zu erreichen;
Realisationsimpakte: Ensemble Neue Musik, Elektronisches Studio, musica nova.
Wo immer der Geist der freien Rede und die Realisationsimpakte um sich griffen, waren Personen ergriffen - ich suche im Moment nach einer Möglichkeit möglichst viele zu erfassen und werde vielleicht unvermittelt einfach Namen in den Artikel streuen. Im Moment denke ich, dass der Schlussbuchstabe eines Satzes den Namen eines Karkoschkaaddicts (<<<bitte nochmals lesen) auslösen will. / Lund, Hans-Jörg - Ingvo Clauder - Helmut Wolf/ Klar ist, dass Bernd Konrad vom Ensemble Neuer Musik infiziert bis heute stundenlang davon (Schweden) und darüber hinaus ins Erzählschwärmen verfällt - Rainer Wehinger hat die bis heute geschätzte und weitverbreitete Hörpartitur von Ligetis “Artikulation” in der Konsequenzaura von Karkoschkas Mittwochsvorlesungen geschaffen. Hans-Peter Jahn ist noch heute und immer ein Karkoschkianer oder heisst es eher Karkoschkaianer - ob im Rundfunk oder in seinen komponierenden Projekten.
Ich konnte Erhards Kontakte in einem internationalen pool mit ihm teilen, wie zB die Kalifornier Donald Buchla (dessen Synthesizer sich Klaus Fessmann und Thomas Arns besorgten) und welcher >>gemeint ist nun Buchla >> sich bei der Zusammenkunft in meiner Wohnung Kronenstr. 55 bass erstaunt zeigte, dass es nix zu rauschrauchen gab - des Weiteren wollte er sich dann vor der vereinbarten Vorlesung drücken; meine angeborene Diplomatiesucht resultierte dann in folgenden Kompromissverfeinerungen: eine Stunde Vorlesung, eine Stunde Tennisgeplänkel (er mochte keine „competition“ = also das Bällchen nur hin und her, gezielt auf die andere Person und nicht daneben spielen …. das hat er mir alles erklärt) und keine Rauschgiftorgie
und
Allan Strange (ich höre wie ca 1980 Karkoschka auf der Treppe zum Urbansplatz 2 sagt “Allan - you know me as Erhard, but here, I am Professor Karkoschka”), leider schon 2008 verstorben und Dan Wyman - Ramon Santos, Tamas Ungvary, Lars Gunnar Bodin, John Melby, Tzvi Avni. / Isaak Roux - Theo Herbst - Christopher Ballantine - Christine Lucia /
Nach dem bis heute umfassenden Erfolg seiner Publikation “Das Schriftbild der Neuen Musik” (1965) wurde der Nachfolger, das inhaltlich eigentlich anspruchsvollere Buch über Analyse quasi von der Studentenbewegung verschluckt.
Das Anliegen des Buches war, Musik in eine fasslich greifbare Dimension ohne Schwammigkeiten zu bringen. Der Ansatz war die Beobachtung, dass es sehr viel nichtssagende Musikanalysen gibt, welche mit Adjektiven wie “schön, ergreifend, erhebend” usw hantieren. Etwas besser wurde die komparative Methode taxiert: “opus 23a ist spannender als opus 37”. Das Ziel war nun über diesen Beschreibungsbereich hinauszugehen und eine sich allen gleich fassbare Ergebinsschiene zu finden. Ich zitiere aus dem Vorwort:
“Im vorliegenden Buch wird immer wieder überpersönliche Objektivität angestrebt bei allem Wissen um die Unmöglichkeit, wirklich objektiv sein zu können. Das geschieht einmal dadurch, dass die Voraussetzungen des unumgänglich beschränkten eigenen Ansatzes ebenso durchschaubar gehalten werden wie das Instrumentarium der Analyse mit seinen ihm innewohnenden Tendenzen - und damit auch die Resultate der Analyse, - zum anderen dadurch, dass weniger ein geschlossenes System musikalischer Analyse als vielmehr offenes analytisches Denken geboten wird, welches angesichts des schnellen Wandels der Musik die Aufgabe hat, zur Entwicklung eigener theoretischer Neuansätze zu verhelfen. Das Wichtigste ist wohl die darin enthaltene Verpflichtung des Lehrers zur Skepsis nach beiden Seiten (auch gegenüber seiner eigenen Skepsis und ihren Voraussetzungen).”
In der sozialen Aura der 1968er liess Karkoschka die Analysen von uns Studenten anfertigen: Walter Scheuer, Sheila Silver, Peter Nitsche, Jürgen Beuerle, Ulrich Süsse, Horst Kolter, Andreas Bodenhöfer, Wolfgang Hamm, Ulrich Grosse und Friedrich Christoph Reininghaus und bei den Darmstädter Ferienkursen vortragen. Wahrscheinlich war an dieser Konzeption der Verlag nicht mehr so interessiert, sie wollten den Star Karkoschka - es dauerte 10 Jahre, bis das Buch in einem anderen Verlag und, wie geplant, ohne Starallüren erschien.
Die im damaligen Zeitgeist verankerten Gedanken - in der Theologie zB die “Entmythologisierunswelle” - wohnten ja auch dem sozialistisch - kommunistischen System inne, zum Zwecke der Erneuerung. Das waren später dann zwar keine Rohrkrepierer, aber in der Realität waren Erneuerungsmühen in keinem Bereich Lieblingsgedanken - und - taten.
Schon damals war derartiger kritischer Hinterfragungsansatz nicht überall konsenzträchtig: nördlich von Stuttgart, gleich bei Köln, sprang der Kollege Stockhausen mit solchen Zweiflern und Rüttlern an seiner Kürtener Eigenbedeutung ganz böse um. / Mohamed Affifi - Manfred Deffner - Manfred Pfisterer /
Ganz anders der legendäre Karkoschka-Ausruf von Einsicht: “da steh ich ja da wie ein Idiot” als es zu einem Missverständnis kam bezüglich der Dauer der einzelnen Stücke der ersten Schallplatte des Elektronischen Studios: konkret - instrumental - vokal bei Ornament, Koblenz CH-7.921 mit Kompositionen von Jürgen Bräuninger, Klaus Feßmann, Erhard Karkoschka, David Mason und Ulrich Süße inzwischen einhörbar auf youtube
Mitten im Tonsatzunterricht, vermeintlich unvermittelt (wie jetzt in diesem Artikel) aus dem Nichts kommt die Aussage. “ich kann keine Männer singen hören” / noch Studenten von damals: Günter Sopper - Dietburg Spohr - Gerhard Steiff - Isolde Vetter - Rainer Zillhardt /
Sein Lehransatz in Komposition war der des Ausstauschs - das Eingehen auf die Ideen des anderen war enorm - nur ein einziges mal benutzte er in meinem Fall die Schablone und Lehrerroutine “Machen Sie für nächstes mal eine Studie, welches die Parameter Dauer und Tonhöhe in Beziehung setzt” - Studie war bei mir nicht, komponieren wollte ich und das war dann auch kein Problem. /- Matthias Schneider-Hollek - Mathias Spahlinger/
Trotz der wichtigen letzten kompositorischen Arbeiten an den Bläserquintetten und den Vertonungen von Paul Celan engagierte sich Karkoschka im traditionellen Bereich und erkannte auch dort eine Sensation, wenn auch naturgemäss eine harmonische: In dem 2. Brahms Intermezzo op 117 b-moll, gibt es eine einmalige Wendung, welche im Insiderjargon als Variante des entlehnten Trugschlusses bezeichnet werden kann, dh der Dominantleitton, seines Zeichens eine Durterz bleibt stehen und wird zur Mollterz. (Publiziert in den Heften des Tonkünstlerverbandes).
Im Arbeiten an kompositorischen Zentralfragen erkannte Karkoschka, dass in der europäischen Musik die Zeitverhältnisse nicht annähernd die gleiche Rolle spielen, wie etwa Tonhöhen oder auch Lautstärkegrade. Indische und afrikanische Musik offerieren diese Dauer - Dimension (der Zeitverhältnisse) eher und Karkoschka suchte nach Möglichkeiten, zeitliche Konzeptionen adäquat und anders als bei seriellen Techniken zu verwenden. Elektronisch ist da tatsächlich viel zu machen. Anlässlich meiner Verabschiedung im Juni 2005, gab es eine elektronische Version seiner Orgelkomposition, da es wohl fast unmöglich schien, drei verschiedene Zeitebenen von einem Menschen auf zwei Manualen und einer Pedaltastatur verwirklichen zu lassen:
"Hinter einem Marschrhythmus her" (1971) von Erhard Karkoschka - MIDI-Realisierung (mit den Orgel-Modulen 201, 202 und romantic der Firma Ahlborn) und digital mastering: Klangwerkstatt Werner Funk Stuttgart
Kurz vor Schluss: Eines war /Reinhard Karger - Reinhold Urmetzer - Bonu Koo/ nicht: Fussball. Es wäre auch wohl schwer vorstellbar, wenn Erhard in einer an Objektivität absonderlich armen Disziplin hätte Stellung beziehen sollen.
Unsere letzte physische Begegnung (telefoniert haben wir danach noch) war seltsam komplex: von richtig verworren bis zu absolut klar: das Konzert am 28.1.2008 auf dem Schloss Kapfenburg mit Patrick Bebelaar, Frank Kroll und Ekkehard Rössle. Oliver Prechtl machte Fahrdienst und war schon einenhalb Stunden vor dem Konzert da. / Albrecht Imbescheid - Reinhard Febel - Brian Wolf - Hanna Auerbacher/ In der Künstlergarderobe (Klaus Tresselt und Klaus Dreher schauten auch vorbei) entwickelte sich ein monologgeprägter Abtausch - der Fluss der Sprache war dahin - Themen siehe oben - aber nach der Aufführung gings in allerflüssigster Sprache und volllautstark zur Sache: Karkoschka: “Hast du Minderwertigkeitskomplexe ..” ich brülle zurück “Nein!!”…und er moserte weiter: ich hätte beim Vortrag eines Textes von Eduard Mörike unprofessionel genuschelt, was eigentlich korrekt beobachtet war: (denText hatte ich vorher nicht eingesehen und in den ersten zwei Zeilen war die Rede von weiblichen braunen Augen und das Wort „Busen“ kam auch vor, was mich tatsächlich aus meiner sonst so souveränen Haltung brachte, da in der ersten Reihe eine frühere Freundin von mir sass, mit ganz romantischen braunen Augen …. der Busen musste dann nicht viel mehr zu meiner Nuschelei beitragen)
Nun,
nie zuvor als Student oder Kollege wurde ich derart zur Sau gemacht - meine halbherzige Erklärung, ich hätte keine Lust gehabt wurde nicht akzeptiert - eher dann, dass ich durch eine Frau in den ersten Reihen abgelenkt war.
Das war der ganz leibhaftige intensive Erhard Karkoscha - eines seiner Lieblingszitate stammt von Schönberg (Richtung positiver oder negativer Kritik): “Hört doch endlich auf, mit dem Invalidengeraunze”